Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verscherzt es sich mit immer mehr EU-Regierungen. Ob Flüchtlingskrise oder Handelsabkommen: Seine Autorität wankt.
David Cameron ging mit hängenden Schultern auf ihn zu. „Es tut mir leid, dass es dazu gekommen ist“, sagte er mit gesenktem Blick zum Kommissionspräsidenten. Dem britischen Premierminister war am vergangenen Dienstag klar, dass er nicht nur sein Land, die gesamte EU, sondern auch Jean-Claude Juncker in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Nach dem Brexit hängt sehr viel an ihm, an Juncker. Einem Politiker, den viele schon abgeschrieben haben, der als krank, depressiv und als Alkoholiker dargestellt wird. Er soll es richten. Aber ist der langjährige Luxemburger Regierungschef überhaupt noch dazu in der Lage? Hat er das Standing, die Kondition, um die Panik aus Brüssel zu vertreiben und die EU wieder in ruhiges Fahrwasser zu führen? „Ich bin nicht müde und auch nicht krank, wie das manchmal in Zeitungen steht“, wehrte sich Juncker diese Woche in einer Rede vor dem Europaparlament. „Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich für das gemeinsame Europa kämpfen.“
Doch die Europabegeisterung ist es gerade nicht, die ihm irgendjemand abspricht. Es sind eher sein Ernst und seine Verlässlichkeit. Zu oft hat er mit zynischen Wortmeldungen aufhorchen lassen, ganze Regierungen – wie zuletzt die österreichische – vor den Kopf gestoßen. Als Klamauk hatte er das Bestreben des neuen Bundeskanzlers, Christian Kern, und seines Vizekanzlers, Reinhold Mitterlehner, bezeichnet, das EU-Handelsabkommen mit Kanada (Ceta) im Nationalrat zur Abstimmung zu bringen. Zwei Tage später ruderte er zurück: „Ich werde nicht als Jurist dastehen, der die Demokratie unterwandert.“ Eine Abstimmung in den Parlamenten werde irgendwie möglich werden.
Juncker hat zu Beginn seiner Amtszeit angekündigt, die EU-Kommission politischer zu machen. Bisher hat er sie jedenfalls nicht handlungsfähiger gemacht. Mit zentralen Vorstößen zur Lösung der Flüchtlingskrise ist er gescheitert. Freilich nicht aus eigener Schuld: Obwohl sich eine Mehrheit der EU-Regierungen im Rat und das Europaparlament hinter seine Initiative zu einer Lastenteilung gestellt hatte, blockierten osteuropäische Länder die Umsetzung. Die Mitgliedstaaten stellten aber auch bis dato nicht ausreichende Gelder für Fonds zur Verbesserung der humanitären Lage in Syrien und Nordafrika zur Verfügung. Sie schickten keine ausreichende Zahl an Sicherheitskräften an die EU-Außengrenze. Juncker, der dies alles initiiert hat, steht vor einem Scherbenhaufen. Daneben entgleisen ihm die Verhandlungen über ein Handels- und Investitionsabkommen mit den USA (TTIP) und sein größtes Projekt, der 315 Milliarden schwere Investitionsfonds, zeigt noch zu wenig Wirkung.
In Brüssel mehren sich die Vorwürfe, Juncker reagiere zu unflexibel und unsensibel auf Entwicklungen wie in Osteuropa. Er produziere das Bild einer abgehobenen Verwaltung, die alles besser wisse. Eine Auswertung von „Politico“, einem Magazin zu den internen Vorgängen in Brüssel, listete zuletzt zahlreiche Verfehlungen auf. Es belegte auch, dass Juncker bisher deutlich weniger durch die Mitgliedstaaten gereist ist als sein Vorgänger José Manuel Barroso. Wenn es ihn wohin zieht, dann lediglich in die EU-Gründerstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien und Benelux).
Juncker findet trotz der Scherze und Küsse wohl auch deshalb keine Gesprächsbasis mit den Problemkindern der Union in Warschau und Budapest. Er „reagiert oft emotional, dadurch ist er zum Feindbild von vielen geworden“, ist die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Ulrike Lunacek, überzeugt. Sie betont allerdings auch, dass es der völlig falsche Zeitpunkte wäre, Juncker jetzt auszutauschen.
Unglaublich töricht
Nach den Osteuropäern sind es auch einzelne Politiker in Deutschland, die gegen Juncker und die Politik der Kommission rebellieren. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel nannte Junckers Hin und Her bei Ceta zuletzt „unglaublich töricht“. Das dumme Durchdrücken von Ceta werde alle Verschwörungstheorien zu den geplanten Freihandelsabkommen explodieren lassen, so Gabriel. „Die Kommission will mit dem Kopf durch die Wand.“
Sturheit kann Juncker tatsächlich nicht abgesprochen werden. Er tritt als kompromissloser Europäer auf, der den Lissabon-Vertrag in- und auswendig kennt. Er weiß von allen Kompetenzen der EU und nutzt diese als Chef der Kommission mit Punkt und Beistrich aus. Was gerade politisch opportun wäre, ist ihm meist egal.
Juncker selbst ist die wachsende Kritik an seiner Person durchaus bewusst. Der 61-Jährige erklärte am Rande des vergangenen EU-Gipfels: „Ich wurde von vielen Kollegen ermutigt, mich nicht entmutigen zu lassen.“
„Er ist mit dem Herzen ein Europäer“, sagt ein hochrangiger Kollege aus Brüssel. Juncker habe kein Alkoholproblem, das sei ihm nie aufgefallen. Er sei ein „Kettenraucher, der seine kleinen Pausen braucht“. Die EU-Regierungen sollten ihm jetzt mehr vertrauen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)