Mustafa Kemal Atatürk, Feldherr und Staatsmann

Mustafa Kemal Pascha
Mustafa Kemal PaschaScherl Bilderdienst / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com
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Im Oktober 1923 wird die Republik Türkei gegründet. In Atatürks bahnbrechenden Reformen liegen auch die Ursprünge der heutigen Konflikte zwischen Moderne und Konservatismus.

Mit einem „gewaltigen Irrtum“ will Mustafa Kemal aufräumen, am 23. September 1923, als ihm in den Räumen der Großen Nationalversammlung in Ankara der Korrespondent Josef Hans Lazar gegenübersitzt. „Schon seit Jahrhunderten“, sagt Mustafa Kemal also, „ist es traditionelle Gewohnheit unserer Feinde, mit allen Mitteln, die ihnen zu Gebote stehen, Gefühle des Hasses und der Verachtung gegen uns Türken hochzuzüchten [...] Immer noch will man im Türken einen Menschen sehen, der abhold ist und feindlich jedem Fortschritt, einen Barbaren, unfähig jeder moralischen und intellektuellen Entwicklung.“

Dass dem nicht so ist, das erklärt Mustafa Kemal dem Gast anhand eines Beispiels: Zwei Menschen stehen einander gegenüber; der eine reich und wohlhabend, der andere arm und mittellos. Außer dem Mangel an materiellen Mitteln aber würden sich die beiden nicht unterscheiden, der Zweite sei auf dem „moralischen und seelischen Gebiet“ in keiner Weise minderwertiger als der reiche Erste. „Der Erste dieser beiden“, sagt Mustafa Kemal, „ist Europa, der Zweite die Türkei.“ Lazar, Korrespondent der „Neuen Freien Presse“, ist angetan vom Charisma des Mustafa Kemal Paşa, des künftigen Präsidenten der Republik Türkei. „In seinem Antlitz ist nichts Schlaffes“, beschreibt ihn Lazar seinen Lesern, „nichts Zielloses und nichts Unausgesprochenes. Es ist ein Bild gereifter und konzentrierter Energien.“

Die glühende Verehrung von Mustafa Kemal, dem das Parlament einige Jahre nach diesem Gespräch den Ehrennamen Atatürk – Vater der Türken – verleihen wird, war bereits zu seinen Lebzeiten verbreitet. „Überall wurde er als Held gefeiert, der seine Nation zum Sieg geführt hatte“, schreibt etwa der in Princeton lehrende Atatürk-Biograf M. Şükrü Hanioğlu; je nach Sichtweise war er ein Vorbild für viele Zeitgenossen, für Atheisten, für Anti-Imperialisten, selbst für antiwestliche Muslime und Nazis (bis heute bleibt Atatürk quer durch politische Ideologien ein Referenzrahmen, wie die türkische Innenpolitik zeigt).

So war Lazar, Korrespondent dieser Zeitung, später NS-Diplomat. Den Nazis gefiel die Idee, dass ein national definiertes Volk siegreich gegen die imperialen Mächte zu Felde zieht. Adolf Hitler soll Atatürk bewundert haben, Atatürk selbst mochte Hitler nicht. Ein Unterschied zwischen den beiden war auch: Atatürks nationalistisches Wirken war auf das Gebiet der Türkei beschränkt, während Hitlers Faschismus imperialistischen Charakter hatte.

Mustafa Kemal Atatürk – der Staatsmann. Er hat aus dem kümmerlichen Rest des Osmanischen Reichs eine modern ausgerichtete Republik gemacht, eine Einzigartigkeit im Nahen Osten. In seinen Reformen liegen aber auch die Ursprünge der heutigen Konflikte. Dass Fragen wie Laizismus, Islam, Minderheiten, die Stellung der Frauen, Staatswesen etc. nicht restlos geklärt sind, begründet nicht zuletzt den Aufstieg des islamisch-konservativen Politikers Recep Tayyip Erdoğan.

Jungtürken. Das Osmanische Reich, in dem Mustafa Kemal aufwächst, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Geboren wird der spätere Feldherr 1881 im multikulturellen Saloniki (Thessaloniki). Der Vater stirbt früh, die Mutter zieht ihren Sohn und ihre Tochter Makbule unter widrigen Bedingungen auf. Mit zarten zwölf Jahren soll sich Mustafa Kemal selbst in der Militärschule in Saloniki angemeldet haben. Jahre später, als junger Offizier, wird er an seinen Freund Salih schreiben: „Ich habe in meinem Leben bis heute keinen anderen Herzenswunsch gehabt, als ein nützliches Mitglied der Armee zu sein.“

Die Ausbildung setzt Kemal in der Militärschule im mazedonischen Manastir fort, spätestens hier findet er Begeisterung für die jungtürkische Bewegung. Die Jungtürken streben eine Reform des dahinsiechenden Osmanischen Reiches an. 1909 verjagen sie Sultan Abdülhamid II. vom Thron, aber erst nach ein paar unsteten Jahren können sie sich mit dem Triumvirat – Enver Paşa, Talat Bey, Cemal Paşa – an der Macht behaupten. Ihre anfangs liberale Ausrichtung hat zu diesem Zeitpunkt eine radikale Note angenommen.

Das Triumvirat ist nationalistisch ausgerichtet, im Ersten Weltkrieg werden unter seiner Ägide Vertreibungen und Massaker an den Armeniern begangen. Atatürk sprach, was den Völkermord betrifft, von einer „Schandtat“; das nationalistische Ideal – in ganz Europa tobt das Zeitalter des Nationalismus – übernimmt er jedoch. Während die Jungtürken die Reformen innerhalb der Monarchie durchführen wollen, wird Kemals Ziel die Republik sein. „Ein leidenschaftlicher Nationalismus“, beschreibt Hanioğlu das Prinzip Atatürks, „mit einer extremen Parteinahme für den westlichen Säkularismus“.

Bei Kemals Eintritt in die Istanbuler Kriegsakademie 1899 brodelt es an allen Ecken des zerbröckelnden Reichs. Kemal wird folglich an mehreren Orten eingesetzt, etwa ab 1911 in Libyen, wo Italien den Krieg erklärt hat. Seine Feuertaufe besteht Kemal auf der Halbinsel Gallipoli, er schlägt die Entente-Kräfte in die Flucht, die von hier aus ihren osmanischen Beutezug beginnen wollen. Es sind die Jahre 1915/1916, der Weltkrieg ist voll im Gange.

Im letzten Kriegsjahr leidet der nunmehrige General wohl an einer Nierenbeckenentzündung. Er besucht in Wien das Sanatorium des Arztes Otto Zuckerkandl, der ihn auf Kur ins böhmische Karlsbad schickt, wie Klaus Kreiser in seiner Biografie „Atatürk“ (Beck Verlag) beschreibt. Kemal findet dort Gefallen an den Damen, die sich chic kleiden und tanzen können. In sein Tagebuch schreibt er: „In der Frauenfrage müssen wir kühn vorgehen [...] Sie sollen ihre Gehirne frei machen und sich mit ernsthafter Wissenschaft befassen.“ Als Präsident wird er später die Emanzipation rasant vorantreiben, die Frauen rechtlich gleichstellen, samt Wahlrecht und Einzug in die Nationalversammlung. Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gökçen wird die erste Kampfpilotin der Welt sein.

Nun kehrt auch mit dem Ende des Weltkriegs keine Ruhe in der Türkei ein. Der Vertrag von Sèvres (1920) hat aus dem Osmanischen Reich ein Rumpfgebilde gemacht, den Kurden und Armeniern werden eigene Gebiete zugesprochen. Alle möglichen Mächte stürzen sich auf den Rest, im Westen der heutigen Türkei ziehen die Griechen ein und verjagen die Muslime, während Kemals Truppen an anderen Orten die Christen vertreiben. Schließlich zieht Mustafa Kemal 1922 erfolgreich in das griechisch besetzte Izmir/Smyrna ein.

Befreiungskrieg. Vom osmanischen Militär hat sich der Feldherr bereits mit Kriegsende abgewendet, er schafft es, ein Netzwerk von Verbündeten aufzubauen. Vor seinem Einzug nach Izmir hat Mustafa Kemal die Große Nationalversammlung gegründet, die ihn zum Präsidenten des Parlaments ernennt. Die Macht hat nun er.

Was die Griechen in Izmir vorher mit Muslimen gemacht haben, machen Kemals Truppen nun mit den Minderheiten. Eine blutige Spur zieht sich im türkischen Befreiungskrieg des Folgejahres durch das Land. Aber die Besatzer werden vertrieben, und so ist mit dem neuen Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 der Vertrag von Sèvres teilweise Makulatur. Lausanne sieht einen sogenannten Bevölkerungsaustausch vor. Es ist eine ethnische Klarstellung, die tiefe Wunden hinterlassen wird.

Am 29. Oktober 1923 ruft Mustafa Kemal die Republik aus, und seine Reformen sind bahnbrechend. Mit rasanter Geschwindigkeit schafft er mithilfe eines Einparteiensystems Sultanat und Kalifat ab, so auch die arabische Schrift. Der Staat wird säkular, als Vorbild dient ihm Frankreich. Die Religion wird aus der Öffentlichkeit verdrängt, das Zivilrecht eingeführt. Die Bürger sollen sich westlich kleiden, müssen einen Nachnamen tragen, die lateinische Schrift lernen und auch die neu definierte türkische Sprache.

Die Republikwerdung mit all ihrer Progressivität kommt mit dem Preis der Assimilation. Aufstände von Kurden – die letzte große Minderheit – in der anatolischen Provinz Dersim werden brutal niedergeschlagen. Just Atatürks Tochter Gökçen nimmt an der Bombardierung Dersims teil.

Atatürk bricht derart drastisch mit der osmanischen Welt, dass kaum Raum bleibt für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Jahrzehntelang findet in der Türkei aufgrund der Heldenverehrung keine historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Wirken Atatürks statt, was die Kluft zwischen der säkularen und der religiösen Bevölkerung, zwischen Nationalismus und Multiethnizität hätte verringern können. Der Staatsmann stirbt am 10. November 1938. Die Erinnerung an seine Person gibt der Republik lange Zeit den einheitlichen Rahmen.

Das Buch

M. Şükrü Hanioğlu
“Atatürk. Visionär einer modernen Türkei„
Aus dem Englischen von Tobias Gabel.
Theiss Verlag. 312 Seiten, 29,95 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2016)

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