Die ÖVP will einen Automatismus zur Erhöhung der Tarifstufen, die SPÖ weitere Umverteilung. Eine echte Abschaffung der kalten Progression sehen beide Konzepte nicht vor.
Wien. Konsensträchtig war das Thema Steuerreform in der Koalition noch nie. Man erinnere sich an das endlose Hickhack um die mit Jahresbeginn in Kraft getretene Steuersenkung. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass der noch für diese Legislaturperiode geplante Entlastungsschritt, nämlich die Abschaffung der sogenannten kalten Progression, zu heftigen Debatten in der Regierung führt.
Der Effekt der kalten Progression ist unbestritten. Weil durch die Inflation die Gehälter steigen, die Steuer-Tarifstufen dem aber nicht angepasst werden, rutschen viele Steuerzahler automatisch in eine höhere Tarifstufe, wodurch die Einnahmen für den Finanzminister steigen. Wirtschaftsforscher von Agenda Austria haben den Effekt berechnet: Ein Arbeitnehmer, der heute 30.000 Euro verdient, und dessen Gehalt jährlich an die Inflation angepasst wird, müsste 2021 um 699 Euro mehr Steuern zahlen. Würden auch die Einnahmen des Finanzministers um die Inflation korrigiert, wären es nur 233 Euro – eine Differenz von 466 Euro allein für das Jahr 2021. In Summe soll diese automatische Steuererhöhung dem Staat jährlich mindestens 400 Millionen Euro bringen.
Grenzwert von fünf Prozent
Ab 2017 soll die kalte Progression abgeschafft sein – so weit ist sich die Koalition einig. Unterschiedlich sind aber die Vorstellungen, wie das geschehen soll. Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) hat schon zu Jahresbeginn sein Modell vorgestellt: Demnach sollen die Tarifstufen automatisch angepasst werden, sobald die Inflation einen Grenzwert von fünf Prozent überschreitet.
Das Konzept der SPÖ – angekündigt von Bundeskanzler Christian Kern in einem „Presse“-Interview vergangene Woche – weicht in wesentlichen Punkten davon ab. Denn erstens will die SPÖ keine Automatik. Zwar sieht auch ihr Konzept die Fünf-Prozent-Schwelle vor. Wenn die Inflation diesen Wert erreicht, würden aber nicht die Tarife automatisch angepasst, sondern der Finanzminister müsste dann einen „Progressionsbericht“ vorlegen, auf Grundlage dessen die Regierung über eine Abgeltung der kalten Progression entscheidet.
Politisch profitieren können
Der Wunsch ist nachvollziehbar: Man will Steuersenkungen politisch „verkaufen“ können – was nicht funktioniert, wenn ohnehin alles einem Automatismus folgt. Die vergangenen Steuerreformen sind ja nach diesem Muster abgelaufen: In einer „größten Steuerreform aller Zeiten“ wurde im Wesentlichen die kalte Progression zurückgegeben, wofür sich die Politik ausgiebig feiern ließ. Beim letzten Mal hat das nicht mehr funktioniert: Laut Umfrage glaubt die Mehrheit der Österreicher, dass die Steuerreform für sie keine positiven Auswirkungen hatte.
Die SPÖ verfolgt aber noch ein zweites Ziel: Kleine und mittlere Einkommen sollen überdurchschnittlich entlastet werden. Die Begründung: Die Inflation sei nicht gleich verteilt über die Bevölkerung. Wegen Preistreibern wie Wohnen, Energie und Lebensmitteln, die bei kleinen Einkommen viel stärker durchschlagen als bei großen, sei auch die Inflationsrate deutlich höher.
Das mag schon stimmen, hat aber sachlich wenig mit der kalten Progression zu tun. Auch die ist bei kleinen Einkommen am stärksten (siehe Grafik), wäre aber durch eine automatische Anpassung der Tarifstufen beseitigt. Was die SPÖ hier in Wahrheit vorschlägt, ist eine weitere Umverteilung (die unterschiedlichen Tarifstufen sind ja schon eine Form der Umverteilung) unter dem Titel der Abgeltung der kalten Progression.
Kalte Progression bleibt
Was beide Modelle eint: Sie sehen in Wirklichkeit keine echte Abschaffung der kalten Progression vor. Denn bei den derzeitigen Inflationsraten von ein bis zwei Prozent dauert es mehr als zwei Jahre, bis die Schwelle von fünf Prozent Inflation erreicht ist. Und in der Zwischenzeit wirkt die kalte Progression natürlich erst recht weiter. Das müsste nicht sein, wie internationale Beispiele zeigen. In der Schweiz passen sich die Tarifstufen jährlich an die Inflation an, in Schweden sogar an die Reallohnentwicklung.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2016)