Verlieren lernen kann nur, wer auch siegen will

Themenbild: Russischer Nachswuchs-Bodybuilder
Themenbild: Russischer Nachswuchs-Bodybuilder Reuters
  • Drucken

Zu viel Ehrgeiz kann sportlichen Kindern Freude und Freunde nehmen. Zu wenig den Anreiz, dass sich Anstrengung lohnt.

Das Leben ist ein einziger Wettkampf. So sehen das zumindest viele Kinder. Auch jede alltägliche Distanz wird um die Wette gelaufen, zur Bushaltestelle, die Treppen hinunter zur Haustür. Ich war Erster! Man muss nicht einmal bis drei zählen, bis einer weint. Entweder der, der gewonnen hat, weil ihn der andere aus Wut gehauen hat. Oder der Unterlegene, weil Verlieren so furchtbar unfair ist. Als Eltern sagt man dann Dinge wie: „Müsst ihr immer alles um die Wette machen?“ Es strapaziert die Nerven, dieses Schneller, Weiter, Höher bei jeder Gelegenheit. Sich immer messen zu müssen und es dann schwierig zu finden, mit dem Ergebnis zu leben. Für das Verlieren gibt es stets eine Flut an Erklärungen: dass geschubst wurde, dass die Schuhe zu groß waren. Das mit den Schuhen war dann übrigens nicht mehr so wichtig, weil der Treppensprung direkt auf die Unfallabteilung führte.

Immer wie am Übungshang

Bei dieser Art von Ehrgeiz geht es ums Übertrumpfen. Nicht darum, seine beste Leistung zu bringen, sondern seine Überlegenheit über den anderen zu demonstrieren, sein Bessersein als Gesamtkonzept zu erhärten. Das ist auch beim Spielen so. Daher neigt man bei Kleinkindern etwa dazu, Spiele mit klarem Ausgang zu vermeiden. Denn schon der Sesseltanz kann eine Geburtstagsfeier entgleisen lassen. Also werden Spiele bevorzugt, bei denen niemand verliert und alle irgendwie super sind. Im Volksschulalter mahnen Pädagogen ein, die Kinder nicht ständig vor dem Verlieren zu bewahren, nur um zu verhindern, dass einem die Spielsteine um die Ohren fliegen, die Nachbarn wegen des Gebrülls anläuten und unschöne Dinge gesagt werden, die mit „immer“ und „nie mehr“ beginnen und mit Tränen enden. Niemand kann leicht verlieren, hört man Lehrer sagen, aber dass es Kinder heutzutage in diesem Ausmaß gar nicht mehr können, liege auch an der Vermeidungskultur ihrer Eltern. Vielen wäre es am liebsten, wenn es so weiterginge wie beim ersten Skikursrennen am Übungshang: Alle bekommen eine Medaille und den ersten Platz. Spätestens wenn der Übungshang zu klein und Sport nicht mehr nur spielerische Beschäftigung ist, wird es auch für Eltern schwierig: Motiviert man Kinder zu mehr Leistung und Durchhaltevermögen, ist der Vorwurf nicht weit, eine „Eislaufmutter“ zu werden. Jeder kennt sie, Eltern, die Kinder über eine Ziellinie anbrüllen und keine Schwäche zulassen. Ist es aber auf der anderen Seite sinnvoll, Kindern die Angst vor Niederlagen zu nehmen, indem man ihnen versichert, es gehe gar nicht ums Gewinnen? Sondern nur um das Dabeisein, den Spaß?

Gerade im Hobbybereich ist der Grat sehr schmal. Dürfen Volksschüler nach einem schlechten Abschneiden bei einem Fußballturnier aus Zorn weinen und toben? Tröstet man sie, etwa mit dem Verweis, dass sie ja eigentlich die Besten waren, oder sagt man: „Ihr habt heute nicht gut genug gespielt“? Von Leistungssportlern weiß man, dass die Überwindung von Niederlagen die Grundessenz des Erfolgs ist, dass Verlieren immer auch ein Ansporn für mehr Anstrengung ist. Wie viel Ehrgeiz ist aber beim Hobbysport verträglich, ehe er die Freude (und die Freunde) verdrängt oder einen unsympathisch wirken lässt?

Schlechte Verlierer kann niemand leiden. Aber gut verlieren kann man nur lernen, wenn man den Wettkampf grundsätzlich ernst nimmt. Und auch siegen will. Eine schwierige Balance.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Schule

Wenn Begabte zu Fünferkandidaten werden

Die Schulpolitik fokussiert auf den Durchschnitt – und auf die schwächeren Schüler.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.