Abschied von Tuvalu: Die Geschichte des ersten Klimaflüchtlings

(c) Edith Leigh
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Sigeo Alesana aus dem südpazifischen Inselstaat Tuvalu gilt als erster anerkannter Klimaflüchtling. Seit 2007 lebt er samt Familie in Neuseeland. In Wahrheit, sagt er, gab es für ihn aber noch wichtigere Fluchtgründe: etwa Familienstreit sowie zwei Babys, die wegen der schlechten medizinischen Versorgung auf Tuvalu starben.

Im September 2007 landete ich auf Tuvalu. Wie eine Smaragdkette auf blauem Samt sah der Südseestaat mit seinem 70 Kilometer langen Ring aus Atollen von oben aus. Sigeo Alesana lebte eine fünfstündige Bootsfahrt vom Flughafen entfernt, er unterrichtete Kinder in der Dorfschule von Vaitupu. Ich wusste nichts von ihm, von seinen Sorgen. Und er wusste nicht, dass er bereits zwei Monate später dieses Land für immer verlassen würde.

Die Insulaner an der Flughafenbaracke würdigten uns „palagi“, hellhäutige Fremde, keines Blickes. Zu viele hatten sie in den vergangenen Jahren kommen und gehen sehen. Das, was mich und andere Besucher plötzlich in die viertkleinste Nation der Welt zog, war die Klimakatastrophe. Tuvalu war das Aushängeschild des schleichenden globalen Desasters geworden, da der Meeresspiegel in der Südpazifikregion viermal so schnell steigt wie im Rest der Ozeane. Wir alle wollten zum letzten Mal ein sinkendes Paradies sehen.

Nirgendwo war man auf Funafuti mehr als 150 Meter vom Ufer entfernt. Auf der zwölf Kilometer langen Hauptinsel lebten rund 5000 Menschen dicht an dicht. Die restlichen 6000 Tuvaluaner verteilten sich auf die weiteren Atolle, strömten aber zunehmend in die Hauptstadt. Das gesamte Land hat nur 26 Quadratkilometer an Boden.

Hart am Wasser und im Müll. Es wirkte laut, bunt und beengt. Ich checkte mit japanischen Ökotouristen ins einzige Hotel der Insel ein. Dahinter führte eine Rampe in die Lagune. Links und rechts vom Betonsteg gammelte Abfall zwischen den Steinen. Es roch nach Fäkalien. Im lauwarmen Wasser lagen zerbrochene Flaschen und Blechdosen. Öko und Paradies – nichts lag diesem Ort auf den ersten Blick ferner.

Fast ein Drittel von Funafuti füllt die geteerte Landebahn aus. Tagsüber spielten darauf Kinder, Hunde und Schweine streunten herum. Abends rollten dort Familien ihre Bastmatten zum Schlafen aus, weil es in den Häusern zu eng und heiß wurde. Das Nordende der Insel bestand aus einer großen stinkenden Müllkippe. Platz zum Vergraben des Abfalls gab es auf dem schmalen Atoll nicht. Auf dem Weg zur Müllhalde kam ich an den „borrow pits“ vorbei: riesigen Löchern am Straßenrand von der Größe eines Tennisplatzes. Eine Hinterlassenschaft der Amerikaner, die im Zweiten Weltkrieg Erde für die Landebahn der Luftwaffe ausheben ließen. 65 Jahre später klafften die Gruben noch immer wie Bombenkrater im Boden, halb gefüllt mit Brackwasser, Windeln, Plastikflaschen. Da kaum noch Baugrund auf Funafuti vorhanden war, wurden Häuser auf Betonstelzen über Mülltümpeln errichtet. Unter einem Haus planschten halb nackte Kinder im Schmutzwasser. Sie winkten, lachten mir zu: „Palagi, bye bye!“

(c) Die Presse

Reisende verirrten sich früher kaum nach Tuvalu. Der Kontakt mit der Außenwelt fand vor allem auf Schiffen statt: Hunderte Insulaner sind als gut ausgebildete Seeleute in der Welt unterwegs.

Auch Sigeo Alesana hatte davon geträumt, als Ingenieur in der Seefahrt zu arbeiten. Doch sein Vater beschloss, dass der junge Mann Lehrer werden sollte. Dieser traf Siga, sie heirateten, Siga wurde schwanger. Zur Entbindung reiste das Paar rechtzeitig in die Hauptstadt, um im Inselkrankenhaus zu sein. Doch es gab Komplikationen, die Nabelschnur wickelte sich um den Hals des Babys. Das marode Spital hatte keine Notfallabteilung. Siga verlor Blut, viel Blut. Schließlich versuchte man, einen Nottransport nach Fidschi zu organisieren. Aber nachts kann auf Funafuti kein Flugzeug landen. Siga überlebte knapp. Aber ihr erster Sohn nicht.


Traurige Sehenswürdigkeit. Zwei Jahre später verlor sie das zweite Kind, das verkehrt herum im Bauch gelegen war. Es wurde tot geboren. Ein simpler Kaiserschnitt hätte auch dieses Baby retten können. Ihr Mann bewarb sich danach um Beschäftigung im Ausland. 3000 Tuvaluaner leben in Neuseeland und Australien, wo es saisonale Erntearbeit und bessere Schulen gibt. Sieben Prozent der vier Millionen Einwohner Neuseelands stammen mittlerweile aus dem Südpazifik. Supermärkte in Auckland verkaufen typisches „island food“ wie Taro und Brotfrucht. Doch Sigeo Alesana bekam keinen dieser Plätze zugewiesen. Er träumte weiter von einer eigenen Familie. Seine beiden toten Babys wurden auf Funafuti begraben, Opfer von Armut und mangelnder Infrastruktur.

„Erosion“ hieß eine der traurigen Sehenswürdigkeiten. Je höher und stärker die Flut, desto weiter entblößt sind die Wurzeln der Bäume am Ufer. Wie gefällte Riesen lagen einst grüne, jetzt graue Palmen auf dem Korallenkies. Mit emsig fotografierenden Ökotouristen ging es einmal quer über die Lagune nach Tepuka Savilivili. Der Name rollte jedem Besucher nach einem Tag so mühelos von der Zunge wie „Kyoto-Protokoll ratifizieren“, denn Tepuka Savilivili gilt als „Ground Zero“ der Südsee: eine gräuliche Erhebung im Wasser, nur wenige Meter lang und breit. Auf diesem Flecken unberührter Natur wuchsen einst Palmen. Als ich ihn sah, war er kahl wie eine Mondlandschaft. Nur ein Stück rotes Styropor bleichte in der Sonne auf den Korallen.

Trinkwasser wird knapp. Drei tropische Wirbelstürme machten im Jahr 1997 die Vegetation zunichte, nicht der ansteigende Meeresspiegel. Die „sinkende Insel“ war streng genommen keine, auch wenn der Klimawandel zu immer stärkeren Wirbelstürmen im Südpazifik führt: 18 Zyklone allein in den Jahren 2014 und 2015. Zyklon Pam allein hinterließ im März 2015 16 Tote und 250 Millionen Dollar Schaden.

Auf dem Weg nach Tuvalu hatte ich Doktor Arthur Webb in Suva auf Fidschi besucht. Er war dort Küstenspezialist bei der geowissenschaftlichen Organisation Sopac. „Natürlich ist der Klimawandel ein riesiges Problem“, stellte er klar. „Aber das ist nicht alles, was in Tuvalu passiert, sondern nur ein Teil.“

Er sprach über Tiden-Zyklen, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte verlaufen. Über Erosion als natürlichen Prozess, den es immer schon gab. Früher hätten Menschen in Harmonie mit der beweglichen Küste gelebt, jetzt würden sie sie verbauen, unter anderem mit schlecht konstruierten Schutzwällen – was die Erosion nur noch verstärke. „Alle Umweltprobleme, die in Tuvalu seit Jahrzehnten bestehen, werden durch den Klimawandel verschärft“, betonte Webb. „Urbanisierte Atollgesellschaften zählen zu den verwundbarsten Ansiedlungen auf der Erde.“

Die „borrow pits“ waren für Funafuti 2007 in der Tat eine größere ökologische Katastrophe als das langsame Ansteigen des Meeresspiegels. Die Hydrologie des Bodens war bereits schwer gestört. Erst 2015 hat Neuseelands Entwicklungshilfe damit begonnen, sie zu reinigen und wieder mit Erde aufzufüllen. Eine neue Sandpumpe läuft inzwischen in der Lagune. Doch die Frischwasserlinse, die unter jedem Atoll die Wurzeln der Pflanzen speist, ist angegriffen – zumal von oben weniger Wasser nachsickert, seit die Strohdächer verschwunden sind und man den Regen als Trinkwasser mit Blechdächern auffängt. Denn Wasser ist knapp und wird rationiert. Die neue Meerwasserentsalzungsanlage kommt dem Bedarf noch nicht hinterher.

Das Geständnis des Staatssekretärs.
Die Situation von Tuvalu in den Zeiten des Klimawandels, so beschrieb es ein Wissenschaftler treffend, sei die eines Krebspatienten im Endstadium, der sich um Aids sorge. Die „Coca-Kolonialisierung“ habe auf die unmittelbare Lebensqualität der Tuvaluaner eine schädlichere Auswirkung als jeder CO2-Ausstoß. Doch davon hörte man auf der internationalen Tribüne wenig.

Vor dem Versammlungshaus war eine Pfütze, die unaufhaltsam wuchs. Innerhalb einer halben Stunde hatte sie die Größe eines Swimmingpools erreicht. Die Flut war an diesem Tag erstmals über drei Meter hoch. Fasziniert schaute ich zu, wie es aus dem Boden blubberte. Für die Insulaner war die Überschwemmung normal. Der Premierminister war nicht zu sprechen. Kritische Presse war außerdem unerwünscht. „Wir führen eine schwarze Liste“, sagte Avafoa Irata, Staatssekretär im Außenministerium. „Solche Leute dürfen nicht mehr einreisen.“

Der smarte Jungpolitiker sprach bestes Englisch und konnte sich daher nicht versprochen haben, als er wenig später sagte: „Wir sensationalisieren das Thema Klimawandel, damit wir etwas davon haben.“ Was genau? „Geld. Und Pässe.“ Am nächsten Tag reiste ich, um viele Muschelketten reicher, aber um einige Illusionen ärmer, ab.

Illegal in Neuseeland. Im November 2007 beschließen Sigeo und Siga Alesana, über die Weihnachtsferien Verwandte in Neuseeland zu besuchen. Sie nehmen nur das Nötigste mit, fliegen erst nach Fidschi und warten dort auf ein Besuchervisum. Im Dezember landen sie in Auckland. Erst dort stellt Siga fest, dass sie wieder schwanger ist. Das ändert alles. Eine weitere Geburt ohne entsprechende ärztliche Versorgung kann sie nicht riskieren. Für Sigeo ist klar: Wenn er Vater werden will, müssen sie in einem medizinisch sicheren Land bleiben. Er verlängert das Besuchervisum mehrfach, doch seit 2009 sind sie illegal in Neuseeland. Sohn Tupou wird in dieser Zeit geboren – ein gesunder Bub, aber auch er lag verkehrt herum im Mutterleib. In Tuvalu hätte er wohl nicht überlebt.

Der Neuankömmling Sigeo macht seinen Führerschein und hält sich streng an alle Regeln, denn als „Overstayer“ darf er der Polizei nicht auffallen. Tolise, ein weiterer Sohn, wird 2011 geboren. Die Eltern wollen nun für immer in Neuseeland bleiben, wo auch Sigeos Schwestern leben. Ihre letzte Hoffnung ist ein Anwalt. Doch dessen Antrag auf Flüchtlingsstatus für die tuvaluanische Familie scheitert, da ihr von staatlicher Seite weder Terror, Krieg noch Verfolgung droht. Und Klimawandel kommt in der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 nicht vor.

Sigeo hofft auf die Residency, die dauerhafte Aufenthaltsberechtigung. Das Verfahren zieht sich über Jahre hin. Am Ende steht Sigeo einen ganzen Tag lang vor einem Tribunal. Er erzählt dem Einwanderungsgericht von seinem Land, von seiner Familie, seiner Verzweiflung. Er hat nichts zu verheimlichen, aber viel zu verlieren: ein sicheres Zuhause, eine Zukunft für seine Kinder, ein besseres Leben, als er es je hatte.


Die Behörden sind letztlich gnädig. Im August 2014 wird Sigeo Alesana aus humanitären Gründen die Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Er ruft als Erstes seine Frau an, er schreit vor Freude in sein Handy, beide weinen. Es ist eine unendliche Erleichterung. Wäre er allein nach Neuseeland gekommen, ohne Familie, dann wäre er abgewiesen worden. Die Folgen des Klimawandels auf seine Heimat wurden in der Entscheidung zwar mit berücksichtigt, aber entscheidend war die Situation für seine Kinder: dass sie am stärksten unter dem Wassermangel und der Unterentwicklung in Tuvalu leiden würden. Fortan gilt Sigeo Alesana als erster Klimaflüchtling der Welt, ohne jedoch einen legalen Flüchtlingsstatus zu besitzen.

Im Februar 2016 fliege ich nach Dunedin. Sigeo ist mit seiner Familie in die kühlere Kleinstadt im Süden Neuseelands gezogen und arbeitet in einer Kaffeefabrik. Maschinistenarbeit. Zwölf Tage dauert jede Schicht, sonntags hat er frei. Das Haus mit Garten liegt in einer ruhigen Straße, Blick ins Grüne. Sigeo empfängt mich im frisch gebügelten Hemd, ein muskulöser Mann mit kahlrasiertem Schädel und wachen Augen. Tupou, der mittlerweile siebenjährige Sohn, springt um uns herum, der vierjährige Tolise rennt hinterher.

Im Wohnzimmer sitzt Ehefrau Siga in einem langen Sommerkleid, einen Säugling an der Brust. Drei Wochen zuvor wurde der dritte Sohn per Kaiserschnitt geboren.

Die Wände sind dekoriert mit Tupous Schul- und Sportauszeichnungen und einem handgeschriebenen Bibelzitat. „Meine Kinder und meine Familie sind das Wichtigste für mich“, erzählt mir Sigeo in leisen, präzisen Sätzen. „In Tuvalu zählt vor allem die Gemeinschaft. Man sitzt zusammen und feiert.“ Er seufzt und lächelt. Er hat mit der „island culture“ abgeschlossen. „Wenn man in ein neues Land kommt, muss man sich anpassen und so leben, wie dort gelebt wird. Das ist mir wichtig.“ Manchmal organisiert jemand eine Lieferung Taro für ihn, denn das Essen von Tuvalu fehlt ihm. „Aber meine Kinder mögen eh lieber Brot.“ Er lacht leise auf. Siga ist aufgestanden und kommt mit einem Teller Kekse zurück.

Was der 36-Jährige will, ist Wohlstand für seine Kinder. Sein Leben dreht sich um die Jungen, er will ihnen jeden Wunsch erfüllen. „Ich war arm. Ich hatte nichts und habe darunter ständig gelitten.“ Er ist ein Vorzeige-Immigrant: fleißig, angepasst, rechtschaffen und mit Ambitionen. Sigeo und Siga haben in Tuvalu zwei Kinder verloren, ihr Land ist arm, und sie wollten mehr vom Leben. Aber ist daran der steigende Meeresspiegel schuld?

Sigeo schaut auf und mir gerade ins Gesicht, sehr ernst. „Meine Antwort darauf ist, dass ich ein echter Klimawandel-Flüchtling bin. Auch wenn ich es juristisch nicht bin – in meinem Herzen bin ich es.“ Sigeo legt die Hand auf die Brust. „Der Klimawandel hat auf alles einen Effekt. Auf alles.“ Er ist gläubiger Christ, aber sein Lieblingsfach als Lehrer war Wissenschaft. „Ich verstand, was um uns herum passierte.“

Siga flüstert etwas aus dem Sessel neben ihm, sie ist sehr schüchtern. Ihr Mann hält die Hand auf Kniehöhe. „Die Papaya- und Bananenpflanzen wurden nur so hoch oder starben ab, der Boden ist zu salzig. Unser Haus war früher 200 Meter vom Ufer weg. Jetzt sind es nur noch hundert Meter. Bei jeder großen Flut wird es überspült. In zehn Jahren ist es vielleicht weg. Wir hatten Angst.“ Siga nickt, ihr Mann fährt fort. „Das Wichtigste ist Wasser. Dürre ist mittlerweile normal. Selbst das Wasser im Brunnen ist dann salzig. Wir hatten als Kinder viele Hautkrankheiten. Meine Kinder sollen damit nicht aufwachsen.“

Als ich ihn frage, ob er eine glückliche Kindheit hatte, wird er sehr still. „Nein.“ Noch eine lange Pause. „Ich bin in der falschen Familie aufgewachsen. Ich vermisse mein Land, aber ich bin froh, von dieser Familie fort zu sein.“ Stückchenweise bricht es aus ihm heraus: Er, der einzige Sohn unter vielen Mädchen, der aber kein Land geerbt hat, weil in der patriarchalischen Tradition zuerst die älteren Cousins an der Reihe waren. Sein Vater und sein Onkel stritten sich ständig.

Wahrer Fluchtgrund: Familienkrieg.Eine Familie im jahrzehntelangen Clinch, es gab Gewalt. „Wir haben nie zusammen gelacht, keiner hat geredet.“ Einmal wurden er und andere Kinder losgeschickt, Kokosnüsse zu sammeln. Ein Tag, den er nie vergessen würde. Der Onkel kam mit der Machete und vertrieb sie. „Wir mussten mit nichts zurück nach Hause. Mit leeren Händen.“ Sigeo flüstert und schaut auf den Teppich. Das Thema tut ihm weh. Es ist der wahre Grund seiner Flucht. Eine zutiefst private Situation, die er nicht mehr ertrug, aber verstärkt durch den verzweifelten Kampf um bestellbaren Grund in einem Land, das bald keinen mehr haben wird. Sigeo gibt sich einen Ruck und setzt sich aufrecht hin. „Wenn wir alle fortgehen, wird auch unsere Kultur und Identität verloren gehen. Das ist traurig. Aber ich persönlich denke zuerst an meine Familie. Tuvalu kommt an zweiter Stelle.“

„Klimaflüchtling“ ist tabu. Ich erzähle von meinem Besuch in Funafuti: dass es damals niemanden gab, der offiziell wegen des Klimawandels das Land verließ. Dass ich das Gefühl hatte, einer PR-Inszenierung aufgesessen zu sein – die zwar moralisch und politisch durchaus berechtigt war, aber nicht die wahren Probleme der vom Westen stets romantisierten, in Wirklichkeit aber missachteten fragilen Atollgesellschaften betraf. Nur 17 Menschen haben laut einer Studie bisher versucht, in Australien und Neuseeland Antrag als Klimawandel-Flüchtling zu stellen. Einer davon, aus dem ebenso vermüllten Kiribati, scheiterte und wurde abgewiesen. Durch ihn erfuhr ich, dass es ein Tabu ist, sich Klimaflüchtling zu nennen – weil es die alte Heimat schlecht aussehen lässt.

Und Sigeo Alesana, der glücklich mit Frau und Kindern beim Kaffee in seinem Wohnzimmer sitzt und bei der ersten Gelegenheit die neuseeländische Staatsbürgerschaft beantragen will – wie geht er mit seinem Status gegenüber seinen Landsleuten um? Immerhin hat er fast zwei Jahre lang öffentlich geschwiegen. „Es gibt viele von uns aus Tuvalu, die nicht zugeben, dass sie Flüchtlinge sind“, sagt Sigeo. „Sie werden es nie laut sagen.“

Tupou kommt wieder ins Zimmer, der Sohn, der gern Rugby und Fußball spielt. Tuvalu kennt er nur von Bildern im Internet. Eigene Fotos hat die Familie nicht. „Wir besaßen keine Kamera“, sagt Sigeo verlegen. Es drängt ihn nicht zurück in die alte Heimat. Zu teuer der Flug, zu viele alte Konflikte, zu traurig der Anblick. Nur Tupou will einmal dorthin. Die Enge und tägliche Anstrengung des Atoll-Lebens, für seine Eltern unerträglich, ist für den Siebenjährigen nur kurios und faszinierend. Er kräht begeistert auf: „Da schlafen die Leute auf der Landebahn vom Flughafen!“

Ich hoffe, dass auch er noch einen „Plane Day“ in Funafuti erleben wird. Als dort das Flugzeug anrollte, stieg ein Schwarm weißer Vögel empor und kreiselte wie eine Welle von Palme zu Palme. Es war ein schöner Anblick.

Das Buch

Marc Engelhardt (Hrsg.)

Die Flüchtlingsrevolution –
Wie die neue Völkerwanderung die ganze Welt verändert.

Pantheon.
352 Seiten,

17,50 Euro.

ZUM Text

Diese Reportage ist ein Auszug aus dem Buch „Die Flüchtlingsrevolution – Wie die neue Völkerwanderung die ganze Welt verändert“. Korrespondenten des Weltreporter-
Netzwerks berichten darin aus 21 Ländern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2016)

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