Watschenmann Europa tut sich mit Türkeikritik schwer

Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu APA/AFP/NICHOLAS KAMM
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Faschistisch, rassistisch, fremden- und islamfeindlich – türkische Regierungsvertreter überhäufen die Europäer mit immer schrilleren Vorwürfen.

Wien/Ankara. Im Vorfeld des Referendums über die Einführung eines Präsidialsystems muss die Europäische Union – wieder einmal – als Watschenmann für türkische Politiker herhalten. In einem Fernsehinterview am Freitag drohte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu der EU mit der einseitigen Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens, sollte sie türkische Staatsbürger nicht demnächst visafrei nach Europa einreisen lassen. Die Visaliberalisierung sei Teil des Deals vom März 2016 zur Eindämmung der Flüchtlingskrise gewesen, sagte er.

Diese Behauptung ist insofern nicht richtig, als die Europäer damals lediglich versprochen haben, die Abschaffung der Visapflicht rasch voranzutreiben, sofern die Türkei einen 72 Kriterien umfassenden Anforderungskatalog umsetzt, was sie bis dato nicht zur Gänze getan hat – und in Zukunft wohl auch nicht tun wird, denn das türkische Antiterrorgesetz, das gegen vermeintliche Putschisten und Regimekritiker eingesetzt wird, ist in seiner derzeitigen Form mit den EU-Anforderungen inkompatibel.

Dass die türkische Regierung aus dieser Pattsituation politischen Profit schlagen und Europa alle Schuld für die Verschlechterung der Beziehungen in die Schuhe schieben will, liegt auf der Hand. Recep Tayyip Erdoğan selbst schlägt gegenüber der EU zunehmend schrille Töne an. „Das Make-up im Gesicht Europas zerfließt“, sagte der Staatschef bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Schwarzmeerstadt Giresun, „das darunterliegende faschistische, rassistische, fremdenfeindliche und islamfeindliche Gesicht hat angefangen, sich zu zeigen.“

Die Faschismuskeule, die Erdoğan bereits gegen Deutschland und die Niederlande eingesetzt hat, wird damit zur Allzweckwaffe in den Beziehungen zur EU. Seitdem Ankara nach einem missglückten Putschversuch gegen den Präsidenten im Sommer 2016 eine Hexenjagd gegen vermeintliche Staatsfeinde eingeleitet hat, haben diese Beziehungen sukzessive jeden Anschein von Harmonie verloren. Die 2005 feierlich eingeläuteten EU-Beitrittsverhandlungen laufen zwar auf technischer Ebene weiter, neue Beitrittskapitel werden aber nicht eröffnet, seit sich die EU-Mitglieder im Dezember eine Nachdenkpause verordnet haben. Trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse glaubt man weder in Brüssel noch in den anderen Hauptstädten der Union ernsthaft an einen EU-Beitritt der Türkei – für eine echte Beitrittsperspektive ist die Stimmung in Europa zu negativ und die Türkei von europäischen Normen zu weit entfernt. Sollte Erdoğan die Türken über eine Wiedereinführung der Todesstrafe votieren lassen, wäre es das Ende aller Beitrittsgespräche.

Drei Gründe für EU-Zurückhaltung

Dass die europäische Kritik an den Vorgängen in der Türkei gedämpft klingt, hat mindestens drei Ursachen. Erstens das Flüchtlingsabkommen: Seit Ankara zugestimmt hat, die Route über das östliche Mittelmeer nach Griechenland abzudichten, ist die Zahl der Neuankünfte auf den griechischen Ägäisinseln drastisch zurückgegangen – wobeinicht klar ist, welchen Anteil an diesem Rückgang türkische Maßnahmen haben, und welchen Anteil die von Österreich Anfang 2016 orchestrierte Schließung der sogenannten Westbalkanroute, über die Flüchtlinge und Migranten in Richtung Mitteleuropa zogen. Faktum ist, dass sich die Türken trotz regelmäßiger Drohungen bis dato an die Abmachung gehalten, die Grenzen abgedichtet und irreguläre Migranten aus Griechenland zurückgenommen haben.

Faktor Nummer zwei ist die Geopolitik: Die Türkei ist als Nato-Mitglied Partner der Europäer, flirtet aber zunehmend mit einer Annäherung an Russland – was für das Verteidigungsbündnis ein Rückschlag wäre. Als regionale Großmacht gilt die Türkei als unverzichtbarer Partner bei der Eindämmung diverser Nahost-Krisen.

Der dritte Grund für die Zurückhaltung ist die – nicht gänzlich unberechtigte – Hoffnung, dass die wirtschaftliche Lage die Türken bald zum Einlenken bringen wird. Die Verschlechterung der Sicherheitslage lässt die Touristenzahlen einbrechen, ausländischen Geldgebern ist angesichts der Turbulenzen die Investitionslust vergangen, steigende Inflation und Arbeitslosigkeit treffen die Bevölkerung. Trotz aller Probleme ist die EU nach wie vor wichtigster Handelspartner der Türkei – und sie wird im Rahmen des Flüchtlingsabkommens bis 2018 sechs Mrd. Euro nach Ankara überweisen. Beides lässt hoffen, dass Erdoğan demnächst leisere Töne anschlagen könnte. (ag./la)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2017)

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