Beim kleinen Mann aus Würselen

Martin Schulz.
Martin Schulz.(c) imago/Xinhua (Luo Huanhuan)
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Am Sonntag wählt das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland, Nordrhein-Westfalen. Der SPD-Kanzlerkandidat, Martin Schulz, braucht in seiner Heimat einen Sieg. Dort helfen selbst seine Geschwister beim Wahlkampf. Ein Lokalaugenschein.

Der Mann hat einen Pappteller mit Bockwurst und Pommes auf dem Schoß. Und er hat ein Gesicht wie der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz: Halbglatze, der gleiche Blick hinter der Brille, Dreitagebart. Erwin Schulz, Arzt im Ruhestand, wartet hier auf der Tribüne vor der Burg Wilhelmstein in Würselen auf den Auftritt seines kleinen Bruders. Es gab Zeiten, da wurde Martin Schulz mit ihm verwechselt, sagt Erwin Schulz der „Presse am Sonntag“. „Herr Doktor“, sagten sie zum Politiker und stellten ihm medizinische Fragen.

Für „den Martin“ ist der Auftritt ein Heimspiel vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Würselen ist Schulz-Land. Auch die Schwester Doris Harst ist da. Sie läuft im Wahlkampf am meisten für den kleinen Bruder, der schon als Kind wie „ein Püppchen“ verwöhnt worden sei: „Der Martin war das Nesthäkchen“, sagt sie. Er war der jüngste der fünf Geschwister, die alle Sozialdemokraten wurden. Das ist bemerkenswert. Die Mutter hatte den CDU-Ortsverband mitgegründet.

Harst schwärmt vom Martin, wie das große Schwestern so tun. Bis auf die Sache mit der Technik: „Einen Nagel kann er nicht einschlagen, und beim Computer findet er den Knopf nicht.“ Aber zumindest das mit der Familien-WhatsApp-Gruppe klappt inzwischen. Die Bande von Schulz mit den Geschwistern seien eng, sagt sie. Schon um Weihnachten, Wochen vor der Entscheidung, beriet er sich mit der Familie, ob er die Kanzlerkandidatur wagen soll. Für und Wider hielten sich die Waage. So erzählt es die Schwester.

Inzwischen hat hinten die Vorband zu spielen begonnen. Der Keyboarder ist auch ein Schulz, der Neffe. Die erste Cover-Nummer seiner Vorband ist unfreiwillig komisch: Vom „train to anywhere“ singen sie. Vom Schulz-Zug heißt es auch, er fahre irgendwohin. Und dann der Refrain „Don't stop believin'“. Höre nicht auf zu glauben.

Stimmungstest.
Wenn am Sonntag die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (NRW) verloren geht, der Heimat des Martin Schulz, wird Genossen der Glaube verlassen an eine SPD-Kanzlerschaft im Herbst. Dann gibt es Durchhalteparolen. Wegen des Zeitpunkts: Es ist der letzte Stimmungstest vor der Bundestagswahl. Wegen der schieren Größe von NRW: Gut jeder fünfte Deutsche lebt zwischen Rhein und Ruhr, wo sich die Großstädte aneinanderdrängen. Und wegen der Geschichte: „Herzkammer der Sozialdemokratie“ nennen sie NRW. Die SPD war hier in den vergangenen 50 Jahren mit einer Ausnahme (2005 bis 2010) immer an der Macht. Diesmal gibt es ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Im jüngsten Politbarometer ist die CDU hauchdünn vorn mit 32 zu 31 Prozent. Es wird knapp für die SPD von Hannelore Kraft, seit 2010 Ministerpräsidentin.Und für Schulz.

Talfahrt. Es sind schwere Wochen für den 61-Jährigen. In Umfragen auf Bundesebene ist die CDU wieder enteilt, der Abstand wächst im Wochentakt, in der Kanzlerfrage hat Merkel den Herausforderer aus Würselen wieder abgehängt. Und nach den Landtagswahlen steht es 0:2. Die erste Pleite im CDU-geführten Saarland war noch erwartbar. Dann kam Schleswig-Holstein, das nördlichste Bundesland. Der SPD-Sieg dort war eingeplant. „Das hat ihn schon getroffen“, erzählt die Schwester. Sie gibt einem „blöden Interview“ des SPD-Ministerpräsidenten Torsten Albig die Schuld an der Pleite. An Schulz habe es nicht gelegen, wiederholen Genossen mantraartig. Aber einen „Schulz-Effekt“ gab es eben auch nicht.

Es ist noch keine zwei Monate her, da feierten sie seine Kanzlerkandidatur auf dem Parteitag in Berlin wie die Ankunft eines Messias. „Er ist glaubwürdig“, stand auf der Leinwand. „Er ist einer von uns“ und dann: „Er ist hier.“ Licht an. Schulz auf der Bühne. Gejohle. Es waren Tage, in denen die SPD in Umfragen plötzlich knapp vor der CDU lag, in denen Tausende Neumitglieder in die Partei strömten und die Jusos Stoffsäcke mit der Aufschrift „Straight Outta Würselen“ verteilten.

Denn die Geschichte, die Schulz in den ersten Tagen seiner Kandidatur von sich selbst erzählte, kreiste um die 35.000-Einwohner-Stadt Würselen. Man kann die Kapitel dieser Erzählung ablaufen. Sie beginnt auf dem Sportplatz des SV Rhenania Würselen. Dort träumte Schulz als Kapitän der Jugendmannschaft vom Profifußball. Dann ging das Knie kaputt und daran beinahe auch Martin Schulz. Er stand da mit einem zerplatzten Traum. Ohne Abitur. Ein paar hundert Meter weiter, hinter der Kirche, ist die Kneipe Houben, die schon von außen so aussieht, als könnte man drinnen abstürzen. Schulz wurde Alkoholiker. „Ich weiß, wie es ganz unten ist“, sagt er heute sinngemäß. Im Sommer 1980 machte er den letzten Schluck Alkohol. Die Kaiserstraße bergauf, ein schmaler Buchladen mit einer Klinkerfassade. Seit der Schulz-Kandidatur belagern immer wieder Kamerateams das Geschäft. Aus China, aus New York. Es ist der frühere Buchladen des SPD-Chefs, den nun Martina Schillings führt. Sie hat noch immer Kontakt zu Schulz. „Wir reden über Literatur, über Bücher“, erzählt sie. Schulz ist ein guter Kunde. Letzte Station der Erzählung ist das Rathaus, wo Schulz mit 31 Jahren Bürgermeister wurde. Mehr Regierungserfahrung hat er nicht.

Er ist Herausforderer ohne Amt, während Merkel in diesen Tagen medienwirksam als Krisenmanagerin um die Welt reist und zwischendurch Wahlkampf macht, wie am Mittwoch in Haltern, NRW: Am Portal der Kirche hängt ein Plakat in Anspielung auf den berühmtesten Satz der Kanzlerin: „Wir schaffen's noch immer.“ Die Kanzlerin greift in ihrer Rede die NRW-Regierung an, die jährlichen Staukilometer hier reichten bis zum Mond. Infrastruktur, Bildung, innere Sicherheit: Mit diesem Dreiklang will die CDU zurück in die Landesregierung. NRW habe 22 Prozent der Einwohner Deutschlands, aber 38 Prozent der Einbrüche, wiederholt Armin Laschet, CDU-Spitzenkandidat in NRW, gebetsmühlenartig. An Innenminister Ralf Jäger arbeitet er sich ab – wegen der Übergriffe in der Kölner Silvesternacht, dem Fall des Berliner Attentäter Anis Amri, der in NRW Asyl beantragt hatte. Jäger ist ein Risiko für Krafts Wiederwahl. Andererseits: Er fängt die Kugeln ab.

Die Ministerpräsidentin selbst ist noch immer beliebt. Die Tochter eines Straßenbahners verfällt im Wahlkampf in ihren Ruhrpott-Dialekt. Vielleicht kokettiert die 55-Jährige auch damit. Sie gibt die geerdete Landesmutter, die „Kümmerin“: Ihr Amtsinhaberbonus könnte NRW für die SPD retten. Andererseits: Die Bilanz ist durchwachsen. Die Wirtschaft schwächelt seit Jahren. Kraft galt einmal als SPD-Zukunftshoffnung. Diese Tage sind aber vorbei. Sie selbst sagt: „Nie, nie“ gehe sie nach Berlin.

Rot-grünes Ende. Krafts rot-grüne Regierung wird heute die Mehrheit verlieren. Alles andere wäre eine Sensation. Es geht nun darum, ob SPD oder CDU als Erste durchs Ziel geht. Denn danach ist die erste Große Koalition denkbar. Die FDP will keine Ampel mit SPD und Grünen. Das hat FDP-Chef Christian Lindner klargemacht, der sich von NRW einen Schub erwarten darf. Die schwächelnden Grünen haben wiederum keine Lust auf Jamaika, also ein Bündnis mit CDU und FDP. Mit der AfD um Marcus Pretzell, den Ehemann von Parteichefin Frauke Petry, will niemand koalieren. Und im letzten Moment hat Kraft ein Bündnis mit der Linkspartei ausgeschlossen.

Es ist eine Lehre aus dem Saarland. Der Flirt von Schulz mit der Linkspartei kam nicht gut an. Die CDU schürt seither die Angst vor Rot-Rot in Bund und Ländern. Das war vielleicht der Kardinalfehler des Martin Schulz. Zudem tauchte er im April ab. Programmatisch kam nicht viel. „Hat denn Frau Merkel schon irgendwas vorgestellt?“, fragt Erwin Schulz rhetorisch. Er rät dem Bruder trotzdem zu weiteren Einschnitten bei den Agenda-Reformen. „Da ist mehr notwendig. Aber das muss man sehr vorsichtig anfassen, da darf man nicht mit dem Hackbeil durchgehen.“

Dann kommt Martin Schulz. Die Jusos halten Schilder, auf denen „Kanzler-Unterbezirk“ steht. Aber viele Reihen sind leer. 300 Menschen haben „Zeit für Martin“, wie es auf den Plakaten heißt. Zum Vergleich: Allein die SPD Würselen hat 500 Mitglieder. Die Stegreifrede reißt das Publikum nicht mit. Mit Ausnahme des Moments, als die Leinwand hinter Schulz umkippt. „Da steht der Laschet hinter“, sagt er. Also der CDU-Spitzenkandidat. Lacher. Schulz versucht, in den Windschatten von Frankreichs neuem Hoffnungsträger zu kommen. Er beginnt Sätze mit: „Emmanuel Macron und ich werden . . .“ Er tadelt die Merkel-Regierung, weil sie Macron nicht einmal zuhöre, gleich Nein sage zu dessen Vorschlägen. Am Montag ist Macron in Berlin. Die besten Bilder mit dem Shootingstar aus Paris bekommt dann wohl trotzdem Merkel.

„Ich habe das Gefühl, das geht genauso schnell wieder bergab wie davor bergauf“, sagt Hans Josef Fest über den Schulz-Hype. Der 68-jährige Würseler ist links gepolt, der Vater saß für die SPD im Stadtrat. Eine sichere Stimme für Schulz. Würde man meinen. Er weiß noch nicht, wen er wählt, sagt er.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2017)

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