Am Dienstag wollen ÖVP und FPÖ das Kapitel Bildung abschließen – vorgesehen ist unter anderem eine Rückkehr zum alten Schulnotensystem. Ende der Woche sollen die 25 Fachgruppen fertig sein. Am 11. oder 12. Dezember könnte die Regierung stehen.
Noch steht der schwarz-blaue Koalitionspakt nicht, aber viel fehlt nicht mehr, auch wenn beide Seiten offiziell lieber tiefstapeln. Man weiß ja nie.
Inoffiziell glauben mittlerweile aber auch die Freiheitlichen, dass der ursprünglich nur provisorisch gezimmerte Zeitplan tatsächlich halten wird. Demnach sollen die 25 Fachgruppen diese Woche ihre Arbeit abschließen, damit die Steuerungsgruppe ab Montag mit der Feinabstimmung beginnen kann. Das um Mariä Empfängnis (8. Dezember) verlängerte Wochenende wird dann für die letzten Details und Kompromisse – Stichwort Ressortaufteilung – genützt. Am Montag oder Dienstag danach wollen ÖVP-Obmann Sebastian Kurz und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache das Regierungsprogramm ihren Parteigremien vorlegen.
Einige Inhalte des schwarz-blauen Regierungsprogramms wurden bereits offiziell präsentiert, andere sind aus Verhandlerkreisen durchgesickert. Ein Überblick. (c) APA
Als eine der ersten Maßnahmen der gemeinsamen Regierungsarbeit planen ÖVP und FPÖ einen nationalen Ausstieg und ein Verbot des Pestizids Glyphosat. In einem Maßnahmenplan sollen die rechtlichen Voraussetzungen für ein nationales Verbot ebenso geklärt werden wie die Verfügbarkeit von Ersatz-Produkten und deren Verwendung und ökologische Auswirkungen. (c) APA
Verschärfungen wird es bei der Mindestsicherung geben. Für Asylberechtigte ist eine "Mindestsicherung light" wie in Ober- und Niederösterreich geplant. Außerdem soll die Sozialleistung für Familien in ganz Österreich einheitlich gedeckelt werden. Eine bestimmte Höchstgrenze nannten die Verhandler noch nicht, kolportiert wird ein Betrag von 1500 Euro pro Familie. Ziel ist eine bundeseinheitliche Regelung - wenn kein Konsens mit den Ländern gefunden wird, will die Regierung einen Rahmen vorgeben. (c) APA
Beim eigentlich für ab Mai 2018 geplanten Rauchverbot in der Gastronomie hat sich die FPÖ durchgesetzt: Die einst von SPÖ und ÖVP beschlossene Regelung wird gekippt. Gäste können daher vorerst weiter in abgetrennten Räumlichkeiten Zigaretten konsumieren. Zugleich wird der Nichtraucherschutz für Jugendliche verstärkt, unter 18-Jährige dürfen künftig nicht mehr im Raucherbereich sitzen. (c) APA
Eine Forderung aus dem ÖVP-Wahlprogramm: Ein steuerlicher Kinderbonus von 1500 Euro pro Jahr wird eingeführt. Details sollen noch ausverhandelt werden. (c) Clemens Fabry
Geeinigt hat man sich auch auf ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr für jene Kinder, die es brauchen - die Entscheidung soll unter anderem auf Grundlage einer Sprachstandfeststellung erfolgen. Für Kinder, die schlecht Deutsch sprechen, ist eine verpflichtende Sprachförderung vorgesehen. Ebenfalls im Elementarpädagogik-Bereich angesiedelt sind die Ziele von höheren Standards bei Bildung und Betreuung, die Sicherstellung des flächendeckenden Ausbaus der Kinderbetreuungseinrichtungen, die Erhöhung der Qualität der Kinderbetreuung (Sprache, Bildung, Werte) sowie verstärkte Kontrollen. (c) Presse
Ab der ersten Klasse Volksschule hat wieder die klassische Skala von 1 (sehr gut) bis 5 (nicht genügend) zu gelten. Verbale Benotungen sind nur noch zusätzlich möglich. Eingeführt werden soll zudem eine "Bildungspflicht": Lesen, Schreiben, Rechnen, Soziale und kreative Kompetenz müssen erfüllt sein, damit man die Schule nach neun Schulstufen abschließen kann. Andernfalls muss die Bildungslaufbahn fortgesetzt werden. Lehrer sollen sich verpflichtend fortbilden müssen und das "grundsätzlich" in den unterrichtsfreien Zeiten. Die entsprechenden Vorgaben im Bildungswesen sind auch einzuhalten. Ansonsten drohen Verlust bzw. Einschränkung von Sozialleistungen.
Im Wirtschaftsbereich wollen ÖVP und FPÖ die unter den Sozialpartnern höchst umstrittene Arbeitszeitflexibilisierung einführen - und die Höchstgrenze der Arbeitszeit auf zwölf Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich anheben. Ein weiterer Kernpunkt: die Entbürokratisierung. Alle neuen Gesetze sollen künftig einem "Bürokratie-Check" unterzogen und bestehende Vorschriften mit dem Ziel einer Reduktion durchforstet werden. Darüber hinaus ist eine Fachkräfteoffensive und die Stärkung der dualen Berufsausbildung geplant. Die Zulassung qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland soll "bedarfsorientiert" gestaltet werden. Arbeitszulassung und Zuwanderungsformen will man künftig klarer trennen. Die Rot-Weiß-Rot-Card soll weiterentwickelt werden.
Das von der FPÖ gewünschte Aus für die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern kommt nicht. Dafür ist eine Reduzierung der Kammerumlage geplant. (c) APA
Heikel war das EU-Kapitel. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat betont, er werde nur eine proeuropäische Regierung angeloben. ÖVP-Chef Sebastian Kurz wird nun wesentliche EU-Agenden ins Kanzleramt mitnehmen. Sollte die direkte Demokratie ausgebaut werden, wird es keine Volksabstimmung über einen EU-Austritt geben. Und im Regierungsprogramm wird eine "klar pro-europäische Linie" abgebildet sein. (c) APA
Bis zum Jahr 2030 soll der gesamte Strom in Österreich aus erneuerbaren Energiequellen stammen. Außerdem will Schwarz-Blau Österreich zu einem Vorreiter in der modernen Umwelttechnologie machen, eine entsprechende nationale Klima- und Energiestrategie soll hierfür noch ausgearbeitet werden. Ziel sei aber jedenfalls, bis 2020 bei den Treibhausgasemissionen ein Minus von 16 Prozent gegenüber 2005 zu erreichen, bis 2030 sollen sie um mindestens 36 Prozent reduziert werden. "Green Jobs" sollen forciert und ein nationaler Aktionsplan für Bioökonomie beschlossen werden. Auf Kohle und Atomkraft soll vollständig verzichtet werden. Im Zuge der Brexit-Verhandlungen wollen ÖVP und FPÖ den Euratom-Vertrag überarbeiten, mit dem Ziel, dass die Staaten, die auf Atomkraft vollständig verzichten oder dies tun wollen, finanziell bessergestellt werden. Die Presse
Einig sind sich die Verhandler auch in Sachen Infrastruktur. Man plane eine "Beschleunigung von Prüfverfahren bei Infrastrukturprojekten" und will vorrangige öffentliche Interessen festschreiben, um Projekte wie die Dritte Start- und Landebahn am Flughafen Wien oder den Wiener Lobau-Tunnel rascher umsetzen zu können. Weiters soll es ein besseres Fördersystem für Elektro-Autos geben sowie steuerliche Anreize für emissionsarmes oder emissionsfreies Fahren. imago/Christian Ohde
Die Polizei wollen ÖVP und FPÖ personell aufstocken. Das Berufsbild des Polizisten soll attraktiver werden, ein Lehrberuf "Verwaltungs- und Exekutivlehrling" und ein neues Besoldungsrecht für Polizisten geschaffen werden. (c) Presse
Das umstrittene Sicherheitspaket zur Terrorprävention dürfte mit einigen Änderungen wiederbelebt werden. Damit soll die Polizei im Verdachtsfall Messenger-Dienste wie WhatsApp überwachen dürfen. Außerdem sieht es mehr Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen und eine automatische Erfassung von Autokennzeichen vor. (c) APA
Bereits präsentiert wurde auch das Kapitel "Digitales". So will Schwarz-Blau den flächendeckenden Breitbandausbau (zumindest hundert Megabit pro Sekunde) vorantreiben. Bis 2021 soll Österreich Pilotland im Bereich 5G-Ausbau werden. Außerdem plant die Koalition die Einführung eines "Bürger- und Unternehmerkontos", mit dem Amtswege online erledigt werden können. Unter dem Schlagwort "digitale Identität" sollen Bürger Personalausweis, Führerschein und E-Card etwa via Handy-App abrufen können - auf freiwilliger Basis. (c) Presse
Um die Gewinne digitaler Konzerne wie Google und Facebook in Österreich besteuern zu können, soll das Modell der digitalen Betriebsstätte umgesetzt werden. (c) APA
Bei Asylwerbern will man künftig verstärkt auf Sach-, statt Geldleistungen setzen. Außerdem sollen sie primär in Landesquartieren untergebracht werden. Abschiebungen sollen forciert, Beschwerdefristen bei Asylverfahren verkürzt werden. (c) APA
Anerkannte Flüchtlinge sollen die Staatsbürgerschaft künftig nicht mehr nach sechs, sondern (wie andere Zuwanderer) erst nach zehn Jahren beantragen dürfen. Verschärfungen soll es auch bei der Arbeitsmigration geben, hier soll etwa die Mangelberufsliste überarbeitet werden. (c) APA
Allgemeine Studiengebühren dürften wieder eingeführt werden. Die Verhandler sollen sich darauf geeinigt haben, dass sie ab dem dritten Semester, also nachdem die Studieneingangs- und Orientierungsphase abgeschlossen ist, kommen sollen. Geplant ist ein Steuerbonus, um Akademiker im Land zu halten. Die Presse
In einigen Bereichen haben ÖVP und FPÖ bislang nur grobe Leitlinien verkündet. So gibt es das Bekenntnis, die Steuer- und Abgabenquote Richtung 40 Prozent zu senken (derzeit 43,2). Im Fokus der Steuerreform sollen Entlastungen für Kinder, Familien und Erwerbstätige stehen. (c) Presse
Bei den Sozialversicherungen gibt es eine grundsätzliche Einigung auf eine Reduzierung der derzeit 21 Träger - Details wurden noch nicht genannt. In den Ländern regt sich bereits Widerstand. (c) APA
In der Medienpolitik sind eine Reduzierung der GIS-Gebühr, eine Erhöhung der Presseförderung und eine ORF-Reform im Gespräch. (c) APA
Möglich ist auch die Rücknahme der "Aktion 20.000" für die Beschäftigung älterer Langzeitarbeitsloser. Diese müsse aufgrund der Budgetsituation "noch einmal evaluiert" werden, heißt es. (c) APA
Der Ausbau der direkten Demokratie gehört zu den Kapiteln, die sich die schwarz-blaue Stuerungsgruppe für den Schluss aufgehoben hat. Während die FPÖ dafür eintritt, eine verpflichtende Volksabstimmung abzuhalten, wenn Volksbegehren von mehr als vier Prozent der Zeichnungsberechtigten (rund 250.000 Personen) unterstützt werden, plädiert die ÖVP für ein zurückhaltenderes Modell und will eine verpflichtende Volksabstimmung erst ab zehn Prozent Unterstützung (rund 640.000). (c) APA
Raum für Raucher, Bonus für Kinder: Worauf sich Schwarz-Blau geeinigt hat
Für die Angelobung durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen würde sich der 12. Dezember anbieten. Einen Tag später ist eine Nationalratssitzung angesetzt, in der das Kabinett Kurz vorgestellt und neue Abgeordnete angelobt werden könnten. „Ob wir das tatsächlich schaffen, wird sich erst weisen“, heißt es aus Verhandlerkreisen. „Aber im Moment sieht es recht gut aus.“
Schwerpunkt Volksschule
Der Endspurt beginnt heute, Dienstag, mit dem Kapitel Bildung, das am Nachmittag abgeschlossen und präsentiert werden soll. Geplant ist ein „Schwerpunkt Lesen, Schreiben und Rechnen“ – vor allem in den Volksschulen, wo ÖVP und FPÖ große Defizite vermuten. Immer mehr Schüler könnten „nicht mehr sinnerfassend lesen und schreiben“, wurde der „Presse“ erklärt. Das wolle man mit entsprechenden Maßnahmen ändern.
Parallel dazu wird das alte Schulnotensystem wieder eingeführt. In den ersten drei Volksschuljahren gibt es zum Teil gar keine Noten mehr, in den Neuen Mittelschulen gleich sieben. Die Kritik daran nehmen ÖVP und FPÖ auf: „Überarbeitung und Präzisierung der Benotungssystematik für alle Schultypen und Schulstufen“, zitiert die „Kronen Zeitung“ aus dem vorläufigen Programm. Aufbauend auf „einer klaren fünfteiligen Notenskala“, nämlich von „Sehr gut bis Nicht genügend“, erfolge „eine genaue Definition, welche Note vergeben werden kann beziehungsweise vergeben werden muss“.
Darüber hinaus ist eine „durchgehende Bildungs- und Leistungsdokumentation“ vorgesehen. Mit digitalen Systemen soll der Fortschritt jedes Schülers erfasst werden – „beginnend mit dem verpflichtenden Kindergartenbesuch bis zum Abschluss der schulischen Laufbahn“. Kolportiert wurde am Montag zudem eine „Bildungspflicht für Lesen, Schreiben und Rechnen“. Damit soll verhindert werden, dass die Schulpflicht einfach abgesessen wird.
Bekenntnis zu Europa
Auch in anderen, wesentlichen Fragen dürften sich ÖVP und FPÖ mittlerweile weitgehend einig sein – zum Beispiel in der Europapolitik. Von Reformen nach dem Subsidiaritätsprinzip ist die Rede. In den „großen Fragen“ wünscht man sich demnach mehr Europa, in den „kleinen“ weniger. Aber im Grunde bekennen sich beide Seiten zur EU. Heinz-Christian Strache, erzählen ÖVPler, habe mehrmals versichert, dass ein Austritt für die FPÖ kein Thema (mehr) sei.
Der heikelste Punkt bleibt die direkte Demokratie, über die in der Steuerungsgruppe noch nicht gesprochen wurde – und die man sich aus gutem Grund bis zum Schluss aufhebt. Die FPÖ wünscht sich eine niedrigere Hürde für Volksabstimmungen: wenn ein Volksbegehren von mehr als vier Prozent der Wahlberechtigten (250.000 Personen) unterschrieben wird. Die Latte der ÖVP liegt bei zehn Prozent.
Dass die Koalitionsverhandlungen daran scheitern könnten, glaubt aber niemand. Nationalratspräsidentin Elisabeth Köstinger (ÖVP), Mitglied der Steuerungsgruppe, deutete bereits einen Kompromiss an: Sie habe keine Angst vor mehr direkter Demokratie und Volksabstimmungen. Die Regelungen müssten aber so gestaltet werden, „dass millionenschwere Kampagnen, radikale Kräfte oder das Ausland“ keinen Einfluss auf Referenden nehmen könnten.
Der mögliche Zeitplan
3. 12. Die 25 Fachgruppen sollen ihre Empfehlungen der Steuerungsgruppe übermitteln.
8.-10. 12. Laut Plan das finale Verhandlungswochenende.
11./12. 12. Der Koalitionspakt könnte besiegelt und den Parteigremien vorgelegt werden.
12. 12. Eventuell Angelobung der neuen Regierung durch den Bundespräsidenten.
13. 12. Nächste Nationalratssitzung: Die neuen Regierungsmitglieder könnten vorgestellt werden.
14./15. 12. In Brüssel tagt der EU-Rat – möglicherweise schon mit einem Kanzler Kurz.
Schwarz-Blau ist sich bei der Zusammenlegung der Krankenkassen weitgehend einig. Die geplante Finanzierung über neun Landestöpfe könnte weitreichende Auswirkungen im Gesundheitssystem haben.
Christgewerkschaftern gehen die Änderungen im Bereich der Sozialversicherungen zu weit. Wirtschaftskammerpräsident Leitl warnt davor zu "ruinieren statt zu reformieren".
Das Thema Sozialversicherungen steht demnächst am Verhandlungsprogramm. Die Zahl der Sozialversicherungsträger soll reduziert werden - auf wie viele, sei noch offen.
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