der übersetzer

„ob ich mich nicht optisch etwas zusammenreißen könne? ich wolle doch nicht zu denen gehören, die um uns herum platz genommen hätten, zu diesen versagern, diesen luschen und flaschen.“ Beginn eines Prosastücks.

Seminarraum des weiterbildungsinstitutes „WCR“ (chancen und risiken) in einem ehemaligen fabrikgebäude in oberschöneweide, fortlaufend seit september 2008.

die ganze sache werde ich doch nicht richtig verstehen. das werde man mir jetzt sicher nicht erklären und schon gar nicht durch und durch erklären. da reiche eine oberflächenerklärung, sagten die sich, eine schrottprämienerklärung, einzelteile, die man mir zuwerfe, discount- und abverkaufsvokabeln, die man sich noch leisten wolle und die man ihm schon die ganze zeit unablässig reiche, immer wieder wiederhole, wie „vertrauenskrise“, als ob damit schon alles gesagt wäre. unter vertrauenskrise könne sich ein jeder was vorstellen, heiße es. das sei nicht so wie bei den „leerverkäufen“ oder bei „subprime“, wo man mit skizzen arbeiten müsse, damit leute wie ich überhaupt eine ahnung bekommen könnten. und so erhöhe man hier andauernd unseren fachwörterpegelstand, man fülle uns sozusagen fachwörtertechnisch ab und denke, damit sei es getan. er wisse, wovon er rede, er sitze ja schon eine ganze weile hier und höre sich das an.

also mal ganz im ernst: von der „vertrauenskrise“ solle ich schon was gehört haben, die sei doch kein jägerlatein, sondern einfach und verständlich. auch die „vertrauenslücke“ könne man nun wirklich voraussetzen, also dass die geschlossen gehöre. wo ich denn bisher gelebt hätte, hinterm mond? er habe es ja gleich gewusst: jetzt komme so ein neuzugang, der von tuten und blasen keine ahnung habe, dem er die ganze angelegenheit auseinandersetzen könne. am ende müsse nämlich er wieder ran, müsse er alles übersetzen, wobei er mir das vergiftungsganze nicht übersetzen könne, dafür reiche die zeit nicht, die wir beide, er und ich, hier hätten. aber das interessiere mich ja nicht, genauso wenig, wie mich interessiere, dass er das nicht freiwillig mache. also, dass man ihn dazu verdonnert habe, sozusagen zu mir verdonnert. normalerweise gehörten wir ja nicht zusammen, also menschen wie er und ich gehörten nicht zusammen. das werde mich doch auch ein wenig erstaunen, dass ich hier auf jemanden wie ihn stieße.
man habe ihn zurückgestuft, müsse ich wissen. man habe gesagt, auch er habe diese nachhilfestunde in sachen wirtschaft nötig, die wir jetzt alle zu überstehen hätten. das könne er zwar nicht ganz glauben, denn er sei bisher ein wirtschaftseinserschüler gewesen, und jetzt heiße es plötzlich, er habe einige dinge aus den augen verloren, er habe einiges vergessen, was man nicht vergessen dürfe und an das man ihn wieder erinnern müsse. mich dagegen werde man an nichts erinnern müssen, im gegenteil, bei mir werde man eher so bei null anfangen, bei der betriebswirtschaftlichen null, so wie ich aussähe mit meinem schmuddellook. ob ich mich nicht optisch etwas zusammenreißen könne? ich wolle doch nicht zu denen gehören, die um uns herum platz genommen hätten, zu diesen versagern, diesen luschen und flaschen, zu diesen gestalten, die hier unabsichtlich hereinstolperten, weil sie keinen durchblick mehr hätten, und das hier für ihre stammkneipe hielten? man dürfe diesen ort aber nicht mit seiner stammkneipe verwechseln, zumal mit stammkneipen ja sowieso schluss sei, das werde mir doch klar sein, denn jetzt gehe alles den bach runter, jetzt zerfielen alle werte zu staub – eben wegen dieser vertrauenskrise, die wir hier auswendig lernen müssten, und die er schon so lange auswendig könne, dass sie jetzt besser aufhören sollten, ihm davon zu erzählen, weil sie durch diese endlosen wiederholungen langsam sein misstrauen erweckten.

aber ich stolperte ja schon über die einfachsten begriffe! als wäre die kreditklemme ein fremdwort! als wäre der ölpreis ein abstraktum! als wären minuserwartungen ein kompliziertes sprachspiel!
eines müsse mir klar sein: nur weil wir in dieses plötzliche miteinander geraten seien, heiße es noch lange nicht, dass es nicht unterschiede zwischen uns gebe. natürlich würde ich erstmal nicht kapieren, was das bedeute, wenn jemand wie er auf einmal in einem raum wie diesem sitze und sich erstmal die augen reiben müsse. er meine, sie seien hier ja nicht an der european business school, dies sei kein eliteinstitut, kein thinktank wie harvard mit hauseigenem fitnesscenter, das sei mehr so das gegenteil davon: immobilien-schrott bzw. eine gegend, die man besser nur per helikopter betrete. aber was erzähle er mir da, schließlich kennte ich das hier, schließlich lebte ich da. er aber gehöre im prinzip nicht hierher, das werde mir doch klar sein. schon alleine mit dem outfit nicht. wobei er sich nicht sicher sei, ob ich sein outfit überhaupt wahrgenommen hätte. ich blickte eher so durch es durch, ich schielte an ihm vorbei nach draußen.

was ich da sehen wolle? glaubte ich etwa, die fünf wirtschaftsweisen kämen zu besuch? sie kämen vorbeigefahren in einer art papamobil, in dem sie aufrecht stünden und mit dem kopf wackelten? ich meinte wohl, die unterhielten sich in ihrem wirtschaftslatein, während sie mit nachlässigen gesten der gegend den segen erteilten. abgesehen davon, dass man dieser gegend überhaupt keinen segen erteilen könne, würden die nicht anhalten wegen jemandem wie mir. etwa um mich zu befragen. oder glaubte ich allen ernstes, sie ließen mich die globale krise in der berühmten „eins-bis-fünf-skala“ bewerten, wie das führende politiker und wirtschaftsleute tagtäglich machten. „hundert bedeutende köpfe“ heiße es dann, was ja schon klarwerden lasse, dass ich nicht dabei sein könne. davon könne ich nur noch träumen. träumen könne ich ebenfalls davon, einen begriff wie „domino-rezession“ zu entwickeln. aber davon träumte ich nicht, nein, ich würde vermutlich froh sein, wenn ich gewisse begriffe überhaupt verstünde.
mein einziger hoffnungsschimmer könne sein, dass ich qua sitzplatzwahl neben ihm gelandet sei. – volltreffer!, sage er da nur, und leider volltreffer auch für ihn, denn er müsse mir alles übersetzen, was von vorne komme. übersetzen oder wiederholen, weil ich es angeblich nicht ganz verstanden hätte. ich liebäugelte mit einer schwerhörigkeit, die er mir aber nicht abnehme. diese tricks kenne er schon.

und nein, er werde das nicht wiederholen. er werde sich nicht wegen mir an der stelle aufhalten, an der die rede von der toxischen kreditflut sei, nur weil ich unaufmerksam sei, weil ich etwas schlaf nachzuholen hätte, wie ich sagte. weil mir meine ohren rauschten, wegen angeblichen stresses, den er mir nicht abnehme. außerdem: die ganze sache mit der nicht unendlichen verpackbarkeit von schulden sei eine art wiedergänger, er meine, wir würden das alles ohnehin noch oftmals hören, die ganze arie von den schulden und ihren verpackungen werde uns die nächsten jahre begleiten. denn die nicht-mehr-verpackbarkeit laufe doch nur auf eine neue verpackungsstrategie hinaus, diesmal eine staatliche verpackungsstrategie, die uns teuer zu stehen kommen, ja uns ausbluten werde. aber was solle man machen, sagten die, die schulden würden schließlich weiter verpackt werden müssen, denn sie würden sich nicht so einfach in luft auflösen, wie viele das gerne hätten. und selbst die anhänger der vermeintlich neu entdeckten nicht-mehr-verpackbarkeit würden diese augenblicklich wieder vergessen, würden sie nur genügend abgelenkt.
er müsse zugeben, er könne selbst nicht gut im kopf behalten, dass irgendwann schluss sei. ja, er habe richtige gedächtnislücken entwickelt. dass beispielsweise sämtliche banken im grunde pleite seien, vergesse er täglich von neuem, dass wir nur noch von konjunkturhilfemilliarden umgeben seien, die unseren alltag stützten, dass unser alltag zusammenkrache, wenn diese einmal aufgebraucht seien, was in kürzester zeit der fall sein werde, ebenfalls. er wisse auch nicht, wann er diesen betriebsalzheimer entwickelt habe, sein ureigenster betriebsalzheimer, der teil des globalen betriebsalzheimers sei, der im augenblick grassiere.

aber deswegen werde er noch lange nicht sagen, die welt gehe unter, wie das gewisse menschen hier machten, er wisse, die wollten ihn mit im boot haben, in diesem ihrem weltuntergangsboot, aber das mache er nicht, da steige er nicht ein. ich solle sie mir nur mal ansehen, diese emsigen typen in der ersten reihe, die die zahlen nach unten korrigierten, und zwar nicht etwa lahmarschig wie gewisse wirtschaftsinstitute, nein, mit einem feuereifer, als wollten sie alle institute der welt darin überholen. dazu brauchten die nicht einmal frühindikatoren wie den seetransportindex, den ifo-index – nein, der markt diktiere ihnen das direkt ins ohr! da könne er nur lachen. in wirklichkeit wollten die doch nichts als ihre eigenen nach unten trudelnden geschäftszahlen in der allgemeinen talfahrt unterbringen und begäben sich ständig auf die suche nach irgendeiner parallelkatastrophe, um ihre eigene katastrophale geschäftssituation zu verdecken. pleitiers, konkursvögel, insolvenzhasen.

dahinter gleich die deppen, die sich gegenseitig nichts als fotos in den kopf jagten: finanzkrisenfotos, suppenküchenfotos, immobilienfotos, fotos von zeltstädten in nevada, fotos von ausverkäufen, von gestürmten banken in großbritannien, von verrammelten gegenden in new york. die meisten hier im raum könnten ja ohnehin nur in fotografien denken, die seien nicht zur abstraktion fähig. manchmal sei sowas ja auch ganz hilfreich, aber in gewissen momenten sei abstand zu empfehlen. also er wolle jetzt nichts von marodierenden banden hören, von discountermüll, von schlägereien vor der bäckerei, abzockerei von kindern, diebstählen, überfällen auf alte leute, alle, die sich nicht wehren könnten.

„die panik lassen wir außen vor“, habe es beim eintritt in diese nachhilfestunde geheißen, daran werde ich mich doch erinnern, also solle ich jetzt hübsch die panik außen vor lassen. die anderen hätten sich bisher ja auch brav daran gehalten, habe er recht? insofern solle auch ich aufhören, so hektisch in meiner tasche rumzukramen, das mache ihn ganz nervös.
er meine, es gingen doch überall jetzt finanzbomben hoch, das werde mir doch aufgefallen sein. da müsse man vorsichtig sein, da dürfe man nicht in hektische aktionen verfallen. ja, es sei nicht ungefährlich, was sich da draußen abspiele, während wir drinnen über vertrauensfragen sprächen. ich kapierte das freilich nicht und dächte, alles laufe weiter wie bisher. ich glaubte, ich brauchte nur den kopf auf den tisch zu legen und die augen zu schließen, und dann habe sich die sache.

aber diese vokabel hätte ich aufgeschnappt! ausgerechnet „akkumulationsregime“, das wolle ich jetzt wissen. das habe mir sicher der peak-oil-mensch zugesteckt. der peak-oil-mensch, der vor uns sitze und der ihn schon seit längerem nerve mit seiner absichtlich nuscheligen diktion, seiner schwülstigen andeutungsrethorik, seinen an den haaren herbeigezogenen vergleichen. dem peak-oil-menschen habe er es zu verdanken, dass er sich den mund wieder fusselig reden könne. er verstehe schon, dem wolle ich derzeit lieber zuhören als ihm. dieser peak-oil-mensch, der so tue, als wäre auch er zurückgestuft worden, oder warum glaube der, diese dinge zu wissen? der erläutere sachverhalte, die ihm gar nicht bekannt sein könnten. nein, dem fehlte das insiderwissen, das sehe man doch sofort. außerdem komme der mit nahrungsmittelknappheiten und rohstoffpreisen, die hier nichts verloren hätten. der starte nichts als polemiken, wo hier doch alles so hübsch geordnet zugehe in dieser öffentlich-rechtlichen anstalt, habe er recht? insofern solle ich mich wieder setzen und einmal durchatmen!

er habe ja gedacht, mir müsse man gewisse vorstellungen nicht erst wegerklären, was ja bekanntlich viel schwieriger sei als hinerklären. und jetzt das. ich solle mir doch die leute ansehen, denen man alles habe wegerklären müssen, z. b. meine vorgängerin, wobei ich die nicht mehr sehen könne, die sei ja verschwunden, und zwar, wie er finde, auf etwas überstürzte weise. meiner vorgängerin habe man so lange diese annahmen wegerklärt, dass überhaupt keine zeit mehr geblieben sei, ihr wieder etwas hinzuerklären. die sei hier rausgekommen mit buchstäblich nichts mehr im kopf, wenn sie hier überhaupt herausgekommen sei. aber immerhin: sie habe ihr erbe hinterlassen. denn wegen ihr sagten sie alle gleich zu beginn jeder stunde nervös: „im grunde bin ich ja schon für die marktwirtschaft“ oder „ich als bekennender marktwirtschaftler“, als ob sie jeden zweifel an ihrer marktwirtschaftlichen totalüberzeugung ausräumen müssten.

ich brauchte nicht zu glauben, er sei mit allem einverstanden, was da von vorne komme. er spreche ja im moment nicht selbst, er übersetze nur, das seien ja quasi nicht seine positionen, die er hier vertrete. aber das könne ich wohl nicht unterscheiden. dass jemand dinge sage, die er persönlich gar nicht meine. ich wüsste nicht, wie es sei, wenn man andauernd für andere spreche. und auch er habe es erst mühsam lernen müssen.
man habe ihn zurückgestuft, habe er das schon erwähnt? man habe erklärt, dass auch andere zurückgestuft worden seien, was er ganz und gar nicht glauben könne, denn er sehe hier niemanden seinesgleichen. er sehe nur mich und meine geistigen anverwandten, all die, die es von vornherein zu nichts gebracht hätten. aber wo blieben die anderen? die, von denen jetzt immer die rede sei: die russischen oligarchen und multimilliardäre, die, deren vermögen verschwunden sei, praktisch über nacht ausradiert, verdampft, entschwunden, so wie es einst aufgetaucht sei, von der magischen hand des marktes herbeigezaubert. also er erwarte, dass die geschrumpften milliardäre mal langsam hier auftauchten und flagge zeigten. aber er sehe hier keine milliardäre, er sehe noch nicht einmal millionäre. hier sehe er nur arme schlucker, die sich wer weiß was erzählen ließen. das ganze völkchen, das man andauernd mitschleppen müsse, diese neue konsumentenschicht, wie sie manchmal genannt werde. menschen, die zu gar nichts anderem mehr fähig seien als zu konsumieren, dabei könnten sie das gar nicht, weil ihnen die kohle dazu fehle. arbeitslose, die immer nur sagten: „der staat muss dies, der staat muss das.“ die ständig die hand aufhielten. jugendliche, die schon zu kompletten idioten herangewachsen seien durch diese konsumentenhaltung. die nicht wüssten, dass in dieser gesellschaft nur die leistung zähle, d. h. normalerweise, wenn mal gerade nicht wirtschaftskrise sei.

also er würde jetzt wirklich gerne wissen, wo die anderen blieben. er wolle ihnen nämlich etwas sagen. er wolle sagen, sie sollten ihm nicht böse sein, dass er nicht eben so viel geld verloren habe wie sie. er wisse natürlich, das könnten die nicht, aber sie würden letztlich einsehen, weit kämen sie nicht mit dieser einstellung, doch vielleicht dürfe er sich dann zu ihnen setzen, in ihren vipraum, den sie mit sicherheit hier gleich einrichteten.
sie sollten doch jetzt langsam mal eintreffen, einer nach dem anderen: politiker, vorstandsvorsitzende, multimillionäre. sie alle stünden auf der gästeliste, doch immer noch sei nichts von ihnen zu sehen. er habe sie ja früher alle persönlich gekannt, er habe mit ihnen sozusagen kaffee getrunken, er habe ihnen sozusagen gegenübergesessen. jetzt sagten sie, sie hätten keine ahnung gehabt, man brauche sie gar nicht erst anzusprechen, weil sie nicht wüssten, wie das alles passiert sei. man müsse vielmehr mit den hedgefondsmanagern, den investmentbankern sprechen, aber natürlich sprächen diese nicht mit einem. da könnten politiker noch so oft das ende der arroganz ausrufen, sie sprächen mit einem nicht. oder habe in letzter zeit ein investmentbanker mit mir gesprochen?

na eben. er sehe die visagen noch vor sich. gewisse banker und hedgefondsmanager hielten ihre welt weiterhin für in ordnung. sie sagten, dass bei ihnen alles noch ticke. noch summe. noch brumme. und während bei denen alles ticke, summe und brumme, sitze er hier mit mir und müsse mir vokabeln erklären, mir, die ich schwer atmete, als ob ich irgendein gesundheitsproblem hätte, als ob irgendetwas nicht in ordnung wäre.
ob ich hunger hätte? durst? also er habe langsam hunger, und er vermute, dass es diesbezüglich etwas mager aussehe, weil die schulkantine dichtgemacht habe. es heiße, sie habe sich übernommen in irgendeinem nebengeschäft und sei in die insolvenz gegangen, obwohl es hier eine reißende nachfrage gäbe. aber vielleicht könne man irgendeinen deal machen, vielleicht hätte ich etwas anzubieten, um ein pausenbrot einzutauschen? also er könne langsam ein pausenbrot gebrauchen. was? ich hätte selbst ein pausenbrot und biete es ihm an? ich müsse wohl depressiv geworden sein, wenn ich in zeiten wie diesen mein pauenbrot hergebe.

nein, auch die toiletten funktionierten nicht mehr, das könne ich ganz vergessen. insofern solle ich lieber auf meinen platz neben ihm zurückkehren, er verstehe gar nicht, wie ich auf diesen gedanken habe kommen können, jetzt aufzustehen und nach vorne zu gehen. was ich denn da vorne wolle? ich werde ihm noch probleme bereiten. man könne nicht einfach den sitzplatz wechseln, man könne nicht einfach aufstehen und nach vorne gehen, um nachzusehen, wer denn dort sei. streng genommen dürften wir uns überhaupt nicht bewegen, die unüberschaubaren dominoeffekte, die das nach sich zöge, wenn einer von uns sich rührte, möchte er sich lieber gar nicht vorstellen. ja, was der markt jetzt gar nicht brauchen könne, sei, dass die leute in hektische bewegungen verfielen.

was heiße, da vorne sei keiner. es gebe niemanden. man sehe doch, da stünden welche und besprächen sich. sie wüssten im moment vielleicht auch nicht weiter, das sei richtig. aber eine eindeutige botschaft könne man derzeit ohnehin nicht erwarten. eher so ein winseln: „könnten wir nicht alle wieder miteinander geld verdienen, nein?“ aber dass da niemand sei, könne ich nun wirklich nicht behaupten. ich glaubte wohl, nur weil sie nicht permanent auf uns achteten, nur, weil sie nicht mit uns kommunizierten, sei das kein unterricht mehr? da sehe man wieder einmal, wie wenig ich verstünde von heutigen nachhilfestunden in sachen wirtschaft. ich hätte so überkommene vorstellungen. ich gehörte vermutlich zu den ewiggestrigen, die immer alles vorgesagt bekommen wollten. oder doch zu den ewig konsumierenden, die verlangten, dass ihnen alles aufbereitet werde? wahrscheinlich glaubte ich, es gebe hier endergebnisse, die man auswendig lernen könne, und dann habe sich die sache. wie bei einem fußballspiel, einem wettrennen oder einem wissenschaftlichen experiment. aber es gebe keine endergebnisse, diese nachhilfestunde gehe immer weiter. selbst wenn sie mich raustransportiert hätten. ja, selbst wenn niemand mehr da sei. wenn alle nachhilfeschüler verschwunden sein würden, sei er sich sicher, sei diese nachhilfestunde nicht zu ende. wenn alle klassenräume sich geleert hätten, wenn die stühle nur noch von den ratten bewegt werden würden und die türen einzig vom luftzug zuknallten, gehe sie weiter.

sicher, im moment sehe es eher umgekehrt aus, die schule sei ja überfüllt, es gebe nicht mehr für alle plätze, sagten sie plötzlich, und tatsächlich, es herrsche ein gewisses gedränge. er sei sich sicher, gleich komme der moment, in dem sie sagten, nicht alle könnten mitgetragen werden.
kein wunder, dass langsam einige zu plan b übergingen. ja, nicht nur die manager und bankiers da draußen, nein, auch ganz normale leute hier drinnen. also ihn würde es jetzt nicht erstaunen, wenn beispielsweise ich dazu überginge, ich mit meiner depression. außerdem wüsste ich auch, dass meine zeit hier langsam abgelaufen sei, dass der nächste auf meinen platz hier warte und dass ich es nicht gerafft hätte. ein unangenehmes gefühl, habe er recht?
nur eines, fürchte er, könne er mir jetzt schon sagen: auf mich werde es keine unternehmensnachrufe geben, ich erreichte nicht die new york times, ich würde kein spiegelcover, noch nicht einmal eine bildschlagzeile gäbe ich her. mein ableben habe keinen nachrichtenwert. ich würde nicht einmal ganz unten vermerkt auf den selbstmordlisten, wie sie im spiegel derzeit abgedruckt würden.
er habe sich ja gedacht, man werde sie alle nicht einfach abtreten lassen. man werde all diese toten finanzmanager und pleitiers wie anno dazumal breschnew oder andropow noch herumtragen, als wären sie lebendig, damit keine panik ausbreche, und jetzt sehe es gerade umgekehrt aus. alle hätten es relativ eilig, die schon im voraus zu beerdigen.
es würden ja von tag zu tag mehr, die sich das leben nähmen, dazu seien es nicht nur einfache selbstmorde, es seien jeweils spektakuläre selbstmorde. also er habe sich über die martialischen todesarten gewundert, von denen man da lesen müsse. da mache es keiner mit tabletten, irgendeinem gift, sie alle sprängen von brücken oder vor züge, sie erschössen sich oder hängten sich auf. nein, das seien keine weicheirigen frauenselbstmorde, so still und heimlich im kämmerlein, damit es auch keiner merke, das seien keine oleander-selbstmorde von indischen bauernfamilien, die sich mit ihrem letzten geld gelben oleander kauften, um sich ein für alle mal aus ihrer wirtschaftlichen misere zu befreien, nein, das seien selbstmorde, die noch was von der tatkraft und entschlossenheit verrieten, die das vorangegangene leben ausgezeichnet hätten. freilich, die USA hätten diesbezüglich wieder einmal die nase vorne. denn man berichte dort von inszenierten selbstmorden, selbstmorden mit theatralischen showelementen, also da werde auf spektakuläre weise ein ableben fingiert, da würden sportflugzeuge benutzt, aus denen man sich, kurz bevor sie zerschellten, per fallschirmsprung rette und den fallschirm dann zu einem in der wüste vorsorglich geparkten motorrad lenke. da würden autos an brücken abgestellt, beispielsweise an der golden gate bridge, auf deren kühlerhaube noch letzte worte in den staub gekritzelt worden seien oder abschiedsbriefe hinter windschutzscheiben geklemmt. aber hier lebten wir noch immer im alten europa, wo man mehr oder weniger deckungsgleich mit seiner behauptung sei. zumindest ich könnte das mal tun, oder wolle ich mich doch wieder einmal drücken? aber das könne er sich nicht vorstellen, schließlich wüsste ich doch selbst, diese schule könne man so oder so nur durch das fenster verlassen und jetzt sei ich an der reihe. aber wenn ich wolle, könne er gerne etwas nachhelfen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2010)

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