Franz Vranitzky: "Ich war ein ungewöhnlicher Parteichef"

(c) Die Presse (Michaela Bruckberger)
  • Drucken

Der ehemalige SPÖ-Bundeskanzler Franz Vranitzky über den Abstieg der Sozialdemokratie, das starke Rechtsaußenlager in Österreich, den missverstandenen Keynesianismus und das Wort »Reform«.

Der Satz, an den sich viele erinnern, den haben Sie nie gesagt: „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt.“ Die Zuschreibung ist wohl deswegen passiert, weil viele meinten, er hätte zu Ihnen gepasst.

Franz Vranitzky: Der Satz ist entstanden am Bundesparteitag im Mai 1988. Im „Profil“ stand zu lesen, am Parteitag hätte jemand gesagt, der Vranitzky ist einer, von dem das sein könnte: Wer Visionen hat, braucht einen Arzt. Ich habe den Satz nie gesagt. Er ist aber an mir picken geblieben. Und ich habe dann auch keine Anstrengungen mehr unternommen, ihn loszuwerden. Bis ich eines Tages, Jahre später, in der Zeitung „Die Presse“ las: Was fällt dem Vranitzky ein, diesen Satz zu verwenden, der ist in Wirklichkeit von Helmut Schmidt. Das ist der Hintergrund. Ich bin 1988 zum Parteivorsitzenden der SPÖ gewählt worden und war von meiner beruflichen Laufbahn und gemessen an meinen Ansichten ein ungewöhnlicher Parteichef. Und ich glaube, dass die Partei einige Verdauungsanstrengungen machen musste. Es sind dann auch eher wenig sympathische Charakterisierungen gekommen: Nadelstreifsozialist et cetera. Es hat zwei Jahre gedauert, bis die Ersten in der Partei zu mir sagten: Du bist eigentlich nicht so. Also schrittweise bin ich einer der ihren geworden. Der Abschied beim Linzer Parteitag 1997 war eine Standing Ovation, die mich nicht nur gefreut, sondern auch sehr gerührt hat.

Dass die Sozialdemokratie einen Bankdirektor zu ihrem Vorsitzenden wählt, ist schon ein Zeichen dieser tiefen sozialdemokratischen Ratlosigkeit, die mit dem Ende des keynesianischen Zeitalters begonnen und bis heute nicht aufgehört hat.

Die wirtschaftliche Entwicklung bis Ende der 1970er-Jahre war im Großen und Ganzen von zweierlei geprägt. Erstens vom Ende der Aufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war sehr viel an wirtschaftlicher Substanz zerstört worden, die Infrastruktur war immer noch rückständig, und es gab einen rasanten Aufholprozess, insbesondere in den 1970er-Jahren, in der Zeit Bruno Kreiskys. Der zweite Aspekt ist der, dass der sogenannte Austrokeynesianismus, das ist eine von Hanns Seidel im Nachhinein gefundene Definition der sozialdemokratischen Politik, dass der Austrokeynesianismus dazu geführt hat, dass man bei aller Begeisterung über den Aufholprozess schrittweise auch an die Gesundheit der Staatsfinanzen denken musste. Daher waren die 1980er-Jahre das erste Jahrzehnt, in welchem die Endlichkeit der staatsfinanziellen Kompetenz klar wurde. Und dazu kam die internationale Stahlkrise, die dazu führte, dass die Voest, aber auch andere aus dem Verstaatlichtenbereich, in Schwierigkeiten gerieten. Dazu kamen die ersten Ansätze der Grün-Bewegung, der das Kraftwerk Hainburg nicht nur als Kraftwerk, sondern auch als Symbol zum Opfer fiel. Und dazu kamen einige Entwicklungen, die bis ins Strafrecht führten: Proksch, Lucona, Noricum. Daher war meine Amtszeit nicht zuletzt dadurch charakterisiert, dieser sehr traditionsbewussten Partei näherzubringen: Wir müssen uns von so manchen Gewohnheiten, von so manchen seinerzeitigen Erfolgsrezepten verabschieden.

Dieses Ende des keynesianischen Zeitalters hat die Sozialdemokratie kalt erwischt, und die Person Vranitzky hat den langsamen Abstieg sozialdemokratischer Macht überdeckt. Das war schon damals mein Eindruck.

Der Keynesianismus ist von vielen missverstanden worden, weil er vor allem von Konservativen mit „deficit spending“ gleichgesetzt wurde. Der wahre Keynesianismus ist eine ökonomische Lehrmeinung, die das antizyklische Verhalten des Staates in den Vordergrund stellt: in konjunkturellen Abschwungsphasen die Staatsausgaben steigern, in Zeiten der Hochkonjunktur die Defizite wieder ausgleichen. Diese zweite Facette ist oft außer Acht gelassen worden. In Streitgesprächen mit Konservativen habe ich immer wieder gehört: Ihr Sozialdemokraten wollt nur Schulden machen. Was nicht zutrifft. Und wir haben ja auch in den Erholungsphasen während meiner Amtszeit die Konsolidierung durchgeführt und den starken Ausgabenüberhang zurückgeholt. Nun aber zu Ihrem eigentlichen Punkt, dem von Ihnen sogenannten Abstieg der Sozialdemokratie. Der ist nicht zuletzt damit zu begründen, dass damals die engen Bindungswirkungen aller Volksparteien, also auch der ÖVP, schwächer geworden sind, je offener die Gesellschaft geworden ist. Die österreichische Gesellschaft war ja über Jahrzehnte eine Art „closed shop“, das ist innerhalb kurzer Zeit anders geworden. Ganz Österreich, vor allem auch die Sozialdemokratie, hatte mit dieser rasanten Entwicklung zu kämpfen.


Es gibt aber auch Ursachen, die unmittelbar im Land liegen. Parallel zu Ihrer Kanzlerschaft vollzieht sich der Aufstieg der FPÖ unter Jörg Haider. Für Sie war eine mögliche Koalition mit dieser FPÖ nie ein Thema. Wie haben Sie die Regierung Schüssel beurteilt?

Schon in der Zeit Bruno Kreiskys gab es Bestrebungen, mit der FPÖ zusammenzuarbeiten, den liberalen Flügel in der Freiheitlichen Partei zu stärken und den nationalen Flügel zurückzudrängen. Das ist in gewisser Hinsicht gelungen. 1983, nachdem Kreisky die absolute Mehrheit eingebüßt hatte, kam es dann zur Regierung Sinowatz/Steger. Nur, das Projekt ist nicht gelungen, denn schrittweise haben die deutschnationalen Kräfte in der Freiheitlichen Partei die Oberhand zurückerobert. Beim Parteitag im September 1986 in Innsbruck hat dann Haider ziemlich rüde Steger von der Spitze verdrängt, und der liberale Flügel ist verschwunden. Nun zu Schüssel: Schüssel hatte im Gegensatz zu mir keine Berührungsängste mit den Rechtsaußen-Elementen in der Freiheitlichen Partei. Schüssel ist dann auch bescheinigt worden, dass er – wie das neudeutsche Wort damals hieß – Haider domestiziert habe. Spätestens in Knittelfeld hat sich gezeigt, dass die Freiheitliche Partei von den Freiheitlichen selber demoliert wurde, von Haider, aber auch von anderen, die heute große Töne von sich geben. Und wenn wir jetzt ins Jahr 2010 gehen, dann ist das Rechtsaußenlager stark wie ehedem.

Rechtsextreme Parteien und Bewegungen gibt es auch anderswo. Das Besondere an der FPÖ ist – ich verwende jetzt Ihre Formulierung über Jörg Haider in den „Politischen Erinnerungen“– die Unfähigkeit, sich vom Nationalsozialismus abzugrenzen. Diese Unfähigkeit hat nicht aufgehört, bis zum Fall Rosenkranz. Ihrer Meinung nach: Warum geht das in Österreich?

Ich habe mich oft gefragt: Ist der rechte Bodensatz, den es ja in allen europäischen Ländern gibt, in Österreich stärker als anderswo? Ich kann Ihnen keine Antwort darauf geben, aber er ist offensichtlich vorhanden. Er wird auch genährt durch die Globalisierung. Nationale Grenzen sind kein Schutz mehr gegen ausländische Einflüsse. Das hängt auch mit der europäischen Integration zusammen, mit deren Reformvorhaben. Das Wort Reform führt heute zu Unsicherheit und Verängstigung. Wenn aber eine Bundesregierung wie die derzeitige keine aktive Europapolitik betreibt, dann gibt es keine positive Alternative zu den Schlachtrufen „Hütet euch vor den Fremden“.

Die Frage ist nur: Warum haben wir eine rechtsradikale Protestpartei, die immer wieder am Nationalsozialismus anstreift, und warum stört das viele Menschen in Österreich nicht? Ich glaube, wesentlich ist die Opferthese von 1945, die gegenüber den Alliierten sehr klug gewesen ist, die aber verheerende Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Landes gehabt hat, und die uns letztlich diese FPÖ beschert hat.

Gerade in diesen Tagen wird häufig des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger gedacht, eines kleinbürgerlichen Populisten, der sich des Antisemitismus bedient hat. Es tut mir leid, das sagen zu müssen: Ganz offensichtlich besteht in Österreich, und das ist jetzt keine Nestbeschmutzung, über die Zeiten ein bestimmtes Grundpotenzial, das für rechtsextremes Gedankengut offen ist. Es liegt mir fern, Wolfgang Schüssel persönlich am Zeug zu flicken, aber ich glaube schon, dass mit der Hereinnahme Haiders in eine österreichische Bundesregierung ein Dammbruch stattgefunden hat. Und dieser Dammbruch hat Konsequenzen gehabt. Erstens, dass wir im Ausland als „Schmuddelkinder“ gehandelt wurden. Das wollen viele Österreicher nicht hören. Die zweite Konsequenz ist noch viel ernster: In der politischen Diskussion, in den Medien, sind Hemmschwellen abgebaut worden. Persönliche Verunglimpfungen sind heute viel selbstverständlicher, als das früher der Fall war. Wenn ich jetzt in der Zeitung lese, mit welchen Schmähschriften der Bundespräsident bedacht wird, dann haben so manche Leute ihren Anstand und ihr Hirn verloren.

Sie haben im Jahre 1991 im Parlament diese Erklärung abgegeben über die österreichische Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus – das war großartig. Gleichzeitig ist es aber grotesk, wenn ein österreichischer Bundeskanzler 46Jahre nach Auschwitz dieses feststellt, und wir alle meinen nicht, dass der Hinweis auf das Offensichtliche banal sei, sondern wir sagen: endlich und großartig! Das zeigt doch, wie grotesk die Situation in Österreich eigentlich ist.

Ich komme auf Ihren Satz zurück mit der Opfertheorie. Die Österreicher haben mit der Opfertheorie ganz gut gelebt, haben keine Veranlassung gehabt, daran etwas zu ändern. Es war politisch bequem, sich hinter der Opfertheorie zu verstecken. Wir müssen uns aus diesem Grund auch immer wieder den Vergleich mit den Deutschen gefallen lassen, für die es keine Opfertheorie gab. Als ich Bundespräsident Waldheim darauf hinwies, dass Richard von Weizsäcker als deutsches Staatsoberhaupt eine Erklärung abgegeben hat, die bis heute Teil der deutschen Staatsdoktrin ist, hat Waldheim mich erstaunt gefragt: „Ja, welche Erklärung soll ich denn abgeben?“

Sie haben von diesem Schmuddel-Image Österreichs gesprochen wegen Schüssel/Haider. Aber der wirkliche Zusammenbruch des österreichischen Ansehens in der westlich-liberalen Welt ist schon unmittelbar vor Ihrem Amtsantritt passiert in der Waldheim-Affäre. Schüssel/Haider war ja dann schon der zweite Akt. Dieser Imageverlust ist bis heute irreparabel, weil ja immer wieder was nachkommt. Nach dem Fall Rosenkranz kommt sicher die nächste Geschichte.

Ich habe in meiner Amtszeit viel mit Leon Zelman zusammengearbeitet. Leon Zelman war ein beseelter Kämpfer für das, was er die wahre Republik Österreich nannte. Er ist nach Amerika und in andere Teile der Welt gereist und hat für dieses Österreich geworben, als Jude, als überlebender Auschwitz-Häftling. Man muss zeigen, dass es auch ein anderes Österreich gibt. Allerdings: Die großen Aufgaben, mit denen man der Welt zeigen will, wes Geistes Kind man ist, beginnen zu Hause. Aus der Perspektive der Sozialdemokratie heißt das, dass es wieder gelingen muss, die Kulturschaffenden im Land für das politische Projekt Sozialdemokratie zu interessieren. Das heißt nicht, Schauspieler dafür zu gewinnen, dass sie für die SPÖ unterschreiben. Das ist nicht der Kern meines Anliegens. Die Sozialdemokratie hat sich über Jahrzehnte als Kulturbewegung verstanden. Und wenn es gelingt, die Kulturschaffenden für das sozialdemokratische Projekt – das es dann natürlich auch geben muss – zu interessieren, dann legt man einen Grundstein dafür, dass sich auch andere Menschen für dieses Projekt interessieren.

Themenwechsel: Der wichtigste Erfolg der Ära Vranitzky war der Beitritt zur Europäischen Union. Die „Kronen Zeitung“ war damals auf Seiten der Regierungspolitik. Wie wichtig war das?

Die Volksabstimmung 1994 ist deswegen gelungen, weil die europäische Integration das Projekt beider Regierungsparteien war. Außerdem das Projekt der Sozialpartner, der Bundesländer und eines überwiegenden Teils der Intelligenz. Ich meine, das war ausreichend, um auch die „Kronen Zeitung“ positiv zu stimmen. Und wenn Sie mich fragen, ob das wichtig war, dann sage ich Ja.

Und diese jahrelange miese EU-Stimmung in Österreich, wie weit führen Sie die auf die „Kronen Zeitung“ zurück?

Es gibt mehrere Ursachen. Eine ist, dass ab der Jahrtausendwende die Bundesregierung keine überzeugenden Anstrengungen unternommen hat, um die EU der Bevölkerung nahezubringen. Zweite Ursache: EU-Geschehen ist Reformgeschehen. Reform ist nicht immer positiv besetzt. Diesen Reformunwillen haben sich zahlreiche Politiker zunutze gemacht und haben die Wähler dagegen eingestimmt. Das hat sich dann auf die Formel reduziert: Alles Angenehme haben wir Österreicher gebracht, und das weniger Sympathische kam von der EU. Wenn das jahrelang so geht, dann baut sich eine Anti-EU-Stimmung auf, und diese Anti-EU-Stimmung hat die „Kronen Zeitung“ zur Blattlinie gemacht.

Die nächste „Vranitzky Lecture“ im Kreisky Forum trägt den Titel: „Sozialdemokratische Politik in Zeiten der multiplen Krise.“ Wegen dieser Krise sollten eigentlich die Herzen der Sozialdemokratie zufliegen. Sie tun es aber nicht. Warum?

Es scheint, als würden Menschen in krisenhaften Zeiten konservativ denkenden Politikern eher ihr Vertrauen schenken als reformorientierten. Konservativ können auch linke Parteien sein, indem sie am Althergebrachten festhalten. Die Linken in Deutschland, die sind konservativ. Sie sagen: Vertraut uns, wir schützen euch vor dem Neuen. Und wenn nun Sozialdemokratie assoziiert wird, vielleicht ein bisschen zu euphemistisch, mit Neuerungen und Innovation, dann gehen in der Krise die verängstigten Bürger weg.


Es gibt aber nicht viel Anlass, die gegenwärtige Sozialdemokratie mit Innovation zu assoziieren.

Ich will trotzdem an die Innovationskraft der Sozialdemokratie glauben.

Und was halten Sie von Visionen?

Von Visionen muss man nichts halten. Die hat man oder nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.