Prozess. Wegen fünffachen versuchten Mordes stand ein afghanischer Asylwerber vor Gericht. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Wien. Sie waren abendessen gegangen, schlenderten danach gut gelaunt durch den zweiten Bezirk. Beim Nestroyplatz hatte die 17-jährige Tochter ein ungutes Gefühl. Da war plötzlich dieser Passant. Irgendetwas sagte der Tochter . . . doch dann ging alles sehr schnell. Der Mann zückte ein Messer, stach auf die Stiefmutter der 17-Jährigen ein. Dann auf den Vater.
„Dann wusste ich, jetzt bin ich an der Reihe“ – Szenen eines Strafprozesses, der am Donnerstag im Wiener Straflandesgericht beim Publikum regelrechtes Entsetzen auslöst. Angeklagt war der 23-jährige afghanische Asylwerber Jafar S. Die Geschworenen sprachen den Asylwerber schuldig. Am Freitagabend wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
Er ist mit der großen Flüchtlingswelle im Oktober 2015 nach Österreich gekommen. „Jafar S. weist bereits zwei Vorstrafen wegen Drogendelikten auf“, erklärt die Staatsanwältin. Nun sind es Messerattacken, die Gegenstand der Anklage sind. Sie haben am 7. März dieses Jahres stattgefunden. Drei Monate vorher (8. Dezember 2017) ist S. aus dem Gefängnis entlassen worden.
Frage aus dem Richtersenat: „Was haben Sie seither gemacht?“ Antwort: „Ich habe am Praterstern Drogen verkauft, und ich habe Drogen konsumiert.“ Dann kam der 7. März. Der Tag, seit dem für das Ehepaar – der Mann ist Zahnarzt – und die Tochter „nichts mehr so ist, wie es früher einmal war“, sagt die Anwältin der Familie.
Der Arzt wurde zweimal attackiert. Denn als er – bereits schwer verletzt – seiner Tochter helfen wollte, ging S. erneut auf den Mediziner los. Die Folgen waren hoch dramatisch. Das Opfer erlitt einen Herzstillstand. Und konnte reanimiert werden.
Warum diese Attacken? „Ich weiß nicht, was ich getan habe“, sagt S. einsilbig. Die Staatsanwältin spricht von einem „Blutrausch“, blättert im Polizeiprotokoll und interpretiert frühere Angaben des Angeklagten so: „Er fühlte sich wie ein Außenseiter. Ihm kam seine gesamte Lebenssituation perspektivlos vor.“ Verteidiger Wolfgang Blaschitz stimmt zu: „Er war mit seiner Lebenssituation unzufrieden.“ Mag sein, aber S. stand weder unter Drogeneinfluss noch war oder ist der 23-Jährige psychisch krank. Laut Psychiater Peter Hofmann ist er voll zurechnungsfähig. Jedoch habe sich bei diesem „Amoklauf“, wie Hofmann formuliert, „viel Frust entladen“.
Amoklauf? Tatsächlich waren die Attacken am Nestroyplatz nicht die einzigen. S. zog weiter zum Praterstern und stach dort einen Landsmann nieder, der ebenfalls mit Drogen dealte. Auf dem Weg dorthin stellte sich ihm ein junger Mann in den Weg. Auf diesen versuchte S. einzustechen. Doch dem Mann gelang es, im letzten Moment auszuweichen. Dann marschierte S. zum Schottentor, wo er laut Polizeiprotokoll afrikanische Drogendealer „töten wollte“.
Opfer leiden an Dauerfolgen
„Ich habe an diesem Tag Kokain und Ecstasy genommen“, gibt S. an. Von Mordvorsatz will er nichts wissen. Bei der Polizei hat er gesagt, er habe sicher keine Drogen genommen. Damit hatte er auch recht. Ein Bluttest ergibt zwar Spuren von Cannabis. Vorheriger Kokain- und Ecstasy-Konsum lässt sich aber ausschließen.
Dem Arzt, der an schweren gesundheitlichen Dauerfolgen leidet, bleibt ein Zeugenauftritt vor Gericht erspart. Seine Frau wird von Richterin Nina Steindl aufgerufen – und darf, nachdem sie Weinkrämpfe erleidet, nach wenigen Augenblicken wieder gehen. Nur so viel kann die Frau über die Attacken sagen: „Er hat davor kein Wort gesagt.“
Warum er sich gleich zwei Messer angeschafft habe, will der Senat von S. noch wissen. Da kommen zwei Antworten: „Um mich vor anderen Afghanen zu schützen.“ Und: „Weil ich meine beiden vorigen Messer verloren habe.“
AUF EINEN BLICK
Weitere Attacke. Laut Anklage hat Jafar S. eine Woche nach U-Haft-Antritt einem Justizwachebeamten die Hand gebrochen. Dies zeige das „hohe Gewaltpotenzial“ des Angeklagten.
Keine Unterkunft. Die persönliche Situation von S. hatte sich im Lauf der Zeit verschlechtert. Zuletzt musste er aus seiner Asylunterkunft ausziehen. Der Grund laut polizeilichen Einvernahmen: Er habe in seinem Zimmer Drogen konsumiert. Fortan war er obdachlos.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2018)