Analyse

Warum uns die Kluft zwischen Arm und Reich völlig egal ist

Nicht die Schere zwischen Arm und Reich geht auf, sondern jene zwischen Gebrauchs- und Statusnutzen.
Nicht die Schere zwischen Arm und Reich geht auf, sondern jene zwischen Gebrauchs- und Statusnutzen.(c) Getty Images (Robert Alexander)
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Wir haben kein Problem mit den Superreichen, auch wenn man es uns einreden will. Emotional wird es erst, wenn die Facebook-Freundin tolle Bilder von den Seychellen postet oder der Nachbar einen neuen SUV fährt. Ein Essay über Ungleichheit, Ungerechtigkeit und das weitverbreitete Gefühl, unterbewertet zu sein.

Jetzt wissen wir es also. „Eine weltweit respektierte und bewunderte Ikone der Revolution trägt eine Schweizer Präzisionsuhr.“ Christian Kern hat diesen Satz jüngst auf Twitter gepostet und sich so aus seinem politischen Exil zu wichtigen gesellschaftlichen Themen zu Wort gemeldet. Nämlich: Dürften hochrangige SPÖ-Politiker einen Porsche fahren und eine Rolex tragen?

Kern eilt also dem früheren SPÖ-Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda zu Hilfe, der nach dem Wahldesaster sein Büro räumen musste und in einem Porsche 911 die SPÖ-Zentrale verlies. Sein Faible für schöne und teure Uhren ist ohnehin hinlänglich bekannt. Auch der Tiroler SPÖ-Chef Georg Dornauer fährt Porsche. „Luxusdebatte“ nennt der Boulevard die leidige Affäre und trifft mit dieser Bezeichnung den Nagel tatsächlich auf den Kopf. Denn der Grund, warum zwar Che Guevara einst unverblümt eine Rolex tragen durfte und Drozda und Co. heute nicht, hängt damit zusammen, dass es uns vor 60 Jahren einfach noch nicht gut genug ging, um uns über Porschefahrer und Rolexuhrenträger zu echauffieren.

In den USA gibt es für dieses gesellschaftliche Phänomen eine nette Bezeichnung. „Keeping up with the Joneses“, lautet sie. Der Begriff leitete sich übrigens von einem Comicstrip ab, der in den 1920ern sehr populär war. Darin geht es um die Familie McGini, die sich ununterbrochen mit der Nachbarsfamilie Jones vergleicht und neidvoll über den Gartenzaun blickt, wenn es denen da drüben vermeintlich besser geht.

Lange Jahre war es den Menschen völlig egal, ob Che Guevara eine Rolex trägt oder nicht. Sie waren mit ihrem sozialen Aufstieg beschäftigt. In der Nachkriegszeit bedeutete dieser in erster Linie genügend Nahrung, ein nettes Dach über dem Kopf, eine anständige Arbeit. „Irgendwann sind die Grundbedürfnisse gedeckt“, sagt der Ökonom und Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts Eco Austria, Tobias Thomas. Irgendwann macht mehr Wohlstand nicht mehr automatisch glücklicher. „Es macht uns dann aber immer noch glücklicher, wenn es uns besser geht als den Nachbarn“, sagt Thomas und folgert: „Das mag dem einen oder anderen auf den ersten Blick unsympathisch erscheinen, aber empirische Studien zeigen, dass man sich eher mit dem eigenen Umfeld vergleicht als zum Beispiel mit Dietrich Mateschitz.“

Möglicherweise geht es uns auch längst nicht mehr um unsere Nachbarn, zu denen wir in der anonymen Großstadt immer seltener Kontakt pflegen. Neid und Missgunst gedeihen dort am besten, wo sie am wenigsten hingehören: in der eigenen Familie und unter Freunden.


Familien vor Gericht. Und damit ist nicht etwa die fragile SPÖ-Patchworkfamilie gemeint, in der man verstohlen aufs Handgelenk des Gegenübers schielt. Laut einer Umfrage der niederösterreichischen Rechtsanwaltskammer endet bereits jede vierte Erbschaft in einem veritablen Familienstreit. Laut einer Erhebung des deutschen Rechtsschutzversicherers Advocard betreffen 40 Prozent aller gerichtlichen Auseinandersetzungen sogenannte „Familienangelegenheiten“.

»»Es macht uns noch glücklicher, wenn es uns besser geht als den Nachbarn. ««

Tobias Thomas, Ökonom und Chef des Instituts Eco Austria

Dass Comiczeichner Arthur R. Momand seine Protagonisten ausgerechnet den Namen McGini gegeben hat, hat mit größter Wahrscheinlichkeit nichts mit Corrado Gini zu tun. Dem strammen Faschisten in der italienischen Mussolini-Diktatur verdanken wir ja bekanntlich den Gini-Koeffizienten, also jene volkswirtschaftliche Kennzahl, die die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft misst. Je näher sich dieser Koeffizient der Null nähert, umso gleicher sind die Einkommen verteilt.

Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, weist unter anderem die Ungleichheit bei den Einkommen aus. In Österreich lag der Gini-Koeffizient 2007 bei 0,284 – und er hat sich bis heute nicht grundlegend geändert. Die Ungleichheit nimmt in Österreich seit mehr als zehn Jahren nicht zu. Dennoch hat sich der Anteil der Medienberichte über Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit im selben Zeitraum „mehr als verdoppelt“, konstatiert Ökonom Tobias Thomas. Warum wohl? „Auch weil die Medien die Sorgen ihrer Leserschaft widerspiegeln“, meint Thomas.

Die McGinis in Lech am Arlberg. Die McGinis trifft man mittlerweile fast überall: Sogar im mondänen Lech am Arlberg. Ende September hielt dort der deutsche Philosoph Christian Neuhäuser einen viel beachteten und euphorisch akklamierten Vortrag beim Philosophikum Lech. Neuhäuser plädiert dafür, dass jedem Menschen nur ein gewisses Maß an Reichtum zusteht. Alles was zu viel sei, müsse der Staat abschöpfen und umverteilen. „Wie reich darf man sein?“, fragt er in seinem aktuellen Buch.

„Statt sich um grundlegend wichtige Probleme wie Armut und Klimawandel zu kümmern, geht es auf gesellschaftlicher Ebene immer bloß um mehr Wirtschaftswachstum als Motor für eine Produktion von möglichst viel Reichtum“, schreibt er und meint: „Viele Menschen haben diese Zusammenhänge durchschaut, fühlen sich abgestoßen von der ihre Gesellschaft prägenden strukturellen Gier.“

Tatsächlich haben die meisten Leute überhaupt kein Problem mit Superreichen und Milliardären. Sie sind so weit von ihrer Lebenswelt entfernt, dass sie gar keinen Neid empfingen. Wenn die britische Organisation Oxfam Jahr für Jahr daran erinnert, dass das reichste ein Prozent der Weltbevölkerung so viel besitzt wie die restlichen 99 Prozent, so mag das den einen oder anderen nachdenklich stimmen. Emotional wird es aber erst, wenn unsere Facebook-Freunde tolle Bilder von den Seychellen posten oder vom Menü im dänischen Superrestaurant Noma. Der persönliche Stress mit der gefühlten Ungerechtigkeit strengt uns mittlerweile dermaßen an, dass wir Ideen von einer „Reichtumsbremse“ fast als eine Erlösung empfinden.


Wir fühlen uns unterbewertet. Vor einigen Jahren sorgte der saudiarabische Multimilliardär Al-Walid bin Talal für internationale Schlagzeilen und Gelächter. Er klagte nämlich das US-Magazin „Forbes“, weil dieses ihn seiner Meinung nach „unterbewertet“ hatte. Der saudische Prinz rangierte mit kolportierten 20 Milliarden Dollar auf Platz 26 unter den reichsten Menschen der Welt. Dem britischen „Guardian“ verriet Bin Talal allerdings, dass sein Vermögen beinahe 30 Milliarden Dollar schwer sei.

Auch Multimilliardäre blicken also hinüber zur Familie Jones. Und auch sie reagieren verbittert, wenn sie das Gefühl haben, von den anderen unterbewertet zu werden. Und dieses permanente Gefühl, unter seinem Wert geschlagen zu werden, zieht sich mittlerweile durch alle Schichten. Wir leben in einer Gesellschaft der subjektiv Unterbewerteten.

Ökonom Thomas publiziert regelmäßig Kommentare über das heimische Pensionssystem. Wenn wir länger leben, müssen wir auch länger arbeiten, meint der Eco-Austria-Chef. „Ich bekomme viele Rückmeldungen von Pensionisten und die meisten stimmen mir zu“, erzählt er. Doch fast immer geht es um ein „Ja, aber“. „Ja, wir müssen länger arbeiten, aber zuerst müssen die Privilegien der Beamtenpensionen abgeschafft werden“, lautet ein gängiger Einwand.

Ja, wir sind für Klimaschutz, aber solange Herr Jones einen SUV fährt, rühren wir keinen Finger. Ja, es ist bitter, wenn sich junge Familien keine Wohnung leisten können, aber wir haben es früher auch nicht leicht gehabt. Uns wurde auch nichts geschenkt.

»»Die Wahrheit ist, die Reichen haben ihren Reichtum nie verdient. ««

Christian Neuhäuser, Philosoph, Sinologe und Soziologe

Ein langweiliger Nobelpreis. Vor wenigen Tagen zeichnete das Stockholmer Nobelkomitee die Ökonomen Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer mit dem Wirtschaftsnobelpreis aus. Drei Wissenschaftler, die in ihren empirischen Untersuchungen viel dazu beigetragen haben, dass man die Armut in Afrika und Asien besser bekämpft. Die Meldung schaffte es mit Ach und Krach als letzte Kurzmeldung in die „Zeit im Bild“.

Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob ein Ungleichheitsforscher mehr Sendezeit bekommen hätte. Die Armut in Afrika interessiert viele nur noch im Zusammenhang mit Migration. Ja, wir würden auch für Afrika spenden, aber dann müssen die auch dort unten bleiben.

Manchmal sind wir also doch froh über die Jones-Familie, insgeheim spornt sie uns ja auch an, mehr zu leisten. Oder besser gesagt: uns mehr zu leisten. Nicht die Schere zwischen Arm und Reich geht in unserem Land auf, sondern jene zwischen Gebrauchs- und Statusnutzen. Der Gebrauchsnutzen einer Rolex liegt vermutlich zwischen zehn und 20 Euro. Aber wer kauft sich eine Schweizer Präzisionsuhr, um zu wissen, wie spät es ist?

Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson würde sagen, wir haben uns die „Killerapplikation Konsumgesellschaft“ heruntergeladen. „Ein ökonomisches System, das darauf angelegt ist, dem einzelnen Menschen eine unbegrenzte Auswahlfülle zu bieten, vereinheitlicht am Ende die ganze Menschheit“, resümiert der Brite.

Unseren Wohlstand, unseren sozialen Aufstieg, unsere Leistungsbereitschaft verdanken wir zu einem wesentlichen Teil den Jones' von nebenan. Auch wenn wir sie dafür hassen.

Wer ist reich ?

Superreiche sollten 100 Prozent Einkommen-, Vermögens- und Erbschaftssteuer zahlen, sagt der deutsche Philosoph Christian Neuhäuser. Doch was ist Reichtum? Wer kann sich reich nennen? Auf diese Fragen wird jeder unterschiedlich antworten, je nachdem, wo und wie er lebt. In seinem Buch „Reichtum als moralisches Problem“ definiert Neuhäuser die Begriffe, wissend, dass es willkürliche Festlegungen sind (eine konkrete Zahl nennt er nicht):

  • Relativer Reichtum ist, deutlich mehr Geld zu haben als der Durchschnitt.
  • Absoluter Reichtum heißt, deutlich mehr Geld zu haben, als man für ein würdevolles Leben braucht.

Superreich sind alle US-Dollar-Milliardäre (laut „Forbes“ waren das 2019 insgesamt 2153 Menschen weltweit). Nach anderer Definition aber auch bereits alle Menschen, die ein Vermögen von 30 Millionen US-Dollar (2017: rund 174.000) besitzen.

Reich sind laut Neuhäuser Menschen, deren Einkommen das Durchschnittseinkommen in ihrem Land um das 300-Fache übersteigt.

Wohlhabend sind Menschen mit durchschnittlichem Geldbesitz. Das bedeutet – etwa in armen Ländern – nicht unbedingt, genug Geld für ein Leben in Würde zu haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2019)

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