"NS-Roman"

Hollywoods neuer Hitlerjunge kam aus Ottakring

Die belgisch-neuseeländische Autorin Christine Leunens.
Die belgisch-neuseeländische Autorin Christine Leunens.(c) Leunens
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Der Roman zum Kino-Welterfolg „Jojo Rabbit“ spielt in Wien, warum ignorierten deutschsprachige Verleger das erfolgreiche Buch - und eine so erstaunliche Autorin? Christine Leunens im Interview über Neuseeland und Österreich, Modeln für Givenchy und ihre Telefonate mit Simon Wiesenthal.

Sie lebt zwar in Neuseeland, aber dieser Tage findet man sie in Los Angeles. Ohne Christine Leunens gäbe es den US-Film „Jojo Rabbit“ nicht, der für viele Preise nominiert ist, unter anderem für sechs Oscars. Leunens hat die Romanvorlage dazu geschrieben: die Geschichte eines von Hitler begeisterten Buben, der entdeckt, dass seine Mutter ein jüdisches Mädchen versteckt hält. Die Verfilmung erntet zu Recht Begeisterung. Doch es gibt auch heftige Kritik: Manche finden es anstößig, dass der Film wagt, die Schrecken des Nationalsozialismus auch mit Witz darzustellen.

Dieser Witz entstammt nicht Leunens' Roman „Caging Skies“. Er ist eine Zutat des seit Jahren in Hollywood erfolgreichen neuseeländischen Filmemachers Taika Waititi, der seine Karriere ursprünglich als Komiker begann. Waititi schrieb das Drehbuch und führte Regie. Er lässt Leunens' Geschichte auch in Deutschland spielen statt dort, wo die Autorin sie eigentlich angesiedelt hat: in Wien Ottakring.

Wien Ottakring? Wie kommt eine in Belgien und Neuengland aufgewachsene, nach Jahren in Frankreich heute auf der Südinsel Neuseelands lebende Autorin auf Wien Ottakring? Und, noch erstaunlicher: Wie kommt es, dass ausgerechnet Österreicher und Deutsche den erfolgreichen, in Frankreich etwa für den bedeutenden Prix Medicis nominierten Roman nicht in ihrer Muttersprache lesen können? „Caging Skies“ wurde bisher in rund 20 Sprachen übersetzt – aber trotz seiner Thematik nicht ins Deutsche.

Wie kommt sie auf Ottakring?

Letzteres kann Christine Leunens sich selbst nicht recht erklären. „Diese Lücke ist wirklich merkwürdig“, sagt sie im Gespräch mit der „Presse“. „Sicher werden einige Verleger angesichts des Filmerfolgs jetzt sagen: Ach herrje, warum haben wir das Buch nicht auf Deutsch herausgebracht?“

Was Wien Ottakring angeht: Sie habe in den Jahren 1993 bis 1995 hier gelebt, erzählt sie, mit Ende 20. „Ich arbeitete damals in der Mode, war aber zugleich schon Schriftstellerin. Ich suchte einen ruhigen Platz, wo ich beides vereinbaren konnte, wo die Entfernungen nicht groß sind. Mit seinem Lebensstil ist Wien für mich perfekt, dachte ich mir. Ich habe hier auch Deutsch gelernt, viele Philosophen wie etwa Wittgenstein gelesen, eine neue Kultur entdeckt.“ Auch als sie später mit ihrem Mann einen gemeinsamen Wohnort überlegt habe, sei Wien in der engsten Wahl gewesen. „Es hat alle Qualitäten einer sehr kultivierten Stadt und ist zugleich nicht so hektisch wie etwa Paris oder New York, wo das Leben ein ständiger Kampf ist.“

Die Wahl fiel schließlich auf einen noch ruhigeren Ort – die neuseeländische Kleinstadt Nelson. Nicht nur mit ihren vielen Lebensorten, auch mit ihren vielen Talenten, von Mode und Musik bis hin zu Sprachen und Literatur, ist Christine Leunens eine künstlerische Ausnahmeerscheinung. Nachdem ein Fotograf sie an einem Strand entdeckt hatte, arbeitete sie als Model für Givenchy, für Designer wie Paco Rabanne und Nina Ricci, war auf der Titelseite der „Vogue“, reiste für Fotoshootings durch die halbe Welt. Heute schreibt sie nicht nur Romane, sondern spielt auch im städtischen Orchester von Nelson Geige – und das, obwohl sie erst als Teenager angefangen hat zu spielen. Das verdanke sie Wien, sagt sie. „In meinem Haus war aus allen Wohnungen Musik zu hören, da dachte ich mir, ich nehme meine Geige hierher mit. Und dann habe ich immer weiter gelernt. Am Anfang war ich im Orchester auf dem letzten Platz der zweiten Geige“, lacht sie, „jetzt sitze ich am Ende der ersten Geige“.

„Wie Hitler im Haushalt Krieg stiftet“

Leunens' 1999 erschienener Debütroman, „Primordial Soup“ („Ursuppe“) mischte Sex, Nahrung und Glauben in der Entwicklungsgeschichte eines Teenagers mit vampirhaften Neigungen. Als Nächstes kam 2004 jener Roman, der Taika Waititi zu seinem Drehbuch inspirierte: „Caging Skies“.

In beiden Romanen interessiert Leunens sich für die Komplexität der menschlichen Psyche, die Untiefen und Widersprüchlichkeiten der Persönlichkeit. „Ich wusste von einer älteren Frau, deren Familie in Paris ein jüdisches Kind versteckt hatte“, sagt Leunens. „Für meinen Roman brauchte es aber mehr.“ Sie kam auf die Idee, das junge jüdische Mädchen von einem begeisterten Mitglied der Hitlerjugend entdecken zu lassen. „Ich wollte auch zeigen, wie Hitler in einem sehr kleinen häuslichen Bereich Krieg stiftet.“ Da ist Jojos Mutter, die Widerstandskämpferin Roswitha (im Film die grandios von Scarlett Johansson gespielte Rosie); da ist der von Hitler begeisterte Bub Jojo – und da ist der jüdische Teenie, in den sich Jojo verliebt. Es ging Leunens auch um individuelle und kollektive Verantwortung, obsessive Liebe und um die Wirkung der Lüge – wie sie im Kopf des anderen Realität wird und so der Welt eine neue Richtung gibt.

Hitler als Kumpel eines vaterlosen Zehnjährigen: Taika Waititi als Hitler mit Jojo Betzler (Roman Griffin Davies).
Hitler als Kumpel eines vaterlosen Zehnjährigen: Taika Waititi als Hitler mit Jojo Betzler (Roman Griffin Davies).(c) imago images/Prod.DB (20th Century Fox - Fox Searchlig via www.imago-images.de)

„Simon Wiesenthal hat mir in Details sehr geholfen“, erzählt Leunens auch. „Ich wollte zum Beispiel wissen, ob die Postämter in Wien am Samstag offen hatten – hatten sie! –, wie der Schwarzmarkt funktionierte, welches Essen man in Wien hatte. Wir haben oft telefoniert.“ Ihr Roman erschien schließlich 2004, ein Jahr vor Wiesenthals Tod.

Die Verfilmung verdankt sich im Grunde der Hartnäckigkeit von Waititis Mutter. „Sie hat monatelang versucht, ihren Sohn dazu zu bringen, das Buch zu lesen, er hat immer gesagt, er habe keine Zeit. Irgendwann hat er nachgegeben.“ Waititi war begeistert; dass er dem Stoff dann eine stark satirische Richtung gab, beunruhigte Leunens nie. „Schon Waititis frühere Filme waren an der Oberfläche sehr witzig und doch im Grunde traurige Filme. Der Humor bei ihm macht gerade diese Traurigkeit deutlich. Als ich dann sein Drehbuch las, erkannte ich diesen Ton wieder. Ich weinte während der Lektüre mehr, als ich lachte.“

Für sechs Oscars ist „Jojo Rabbit“ nominiert, man wird noch lang von ihm sprechen. Ob der Roman „Caging Skies“ nun doch noch auf Deutsch erscheint? Wert wäre er es.

Zur Person

Die belgisch-neuseeländische Autorin Christine Leunens (55) war Model für Givenchy und auf der Titelseite der „Vogue“ zu sehen, spielt in einem professionellen Orchester Violine – und schrieb und schreibt bemerkenswerte Romane: „Caging Skies“, die Vorlage für den Film „Jojo Rabbit“, spielt in Wien – wo Leunens eine Zeit lang lebte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2020)

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