Extremismusforschung

Rechts oder links: Was ist „die falsche“ Seite?

(c) Peter Kufner
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In Deutschland verrutscht das politische Koordinatensystem. Es entfaltet sich die Tendenz, nur die eine Seite des politischen Spektrums kritisch zu betrachten, die rechte, in Medien, aber auch bei Parteien.

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Das Grundgesetz hat in Deutschland eine streitbare Demokratie verankert. Zu ihr gehört dreierlei: die Wertgebundenheit (bestimmte Artikel der Verfassung wie etwa die Unantastbarkeit der Menschenwürde stehen auch durch eine noch so große Mehrheit nicht zur Disposition des Parlaments), die Abwehrbereitschaft (Parteien und Vereinigungen können verboten werden) sowie die Vorverlagerung des Demokratieschutzes: Um also Gegner der Demokratie zu sein, ist es nicht nötig, Gewalt zu propagieren oder gar anzuwenden. Der Verfassungsstaat muss Kräften, die ihn auf parlamentarischem Weg abzuschaffen oder einzuschränken gedenken, glaubwürdig entgegentreten. Das ist eine zu beherzigende Lehre aus der schmach- und leidvollen Vergangenheit.

In den vergangenen Jahren entfaltet sich jedoch eine Tendenz, nur die eine Seite des politischen Spektrums kritisch zu betrachten, die rechte, vor allem in Medien, aber auch bei Parteien. Schreitet diese Entwicklung fort, so wäre das ein Menetekel für die demokratische Ordnung.

Dieses Freund-Feind-Denken

Wogegen sich die vergleichende Extremismusforschung wendet, ist die These, lediglich eine spezifische Richtung lehne den demokratischen Verfassungsstaat ab. Der Vergleich gegensätzlicher – und doch verwandter – (tatsächlich oder vermeintlich) antidemokratischer Phänomene ist ein anspruchsvolles Unterfangen, empirisch wie theoretisch. Die Extremismusforschung, die prüft, ob politische Kräfte die Menschenrechte, Pluralismus und Gewaltenteilung akzeptieren oder eben nicht, hat keinem „Konjunkturrittertum“, keinen Zeitgeisttendenzen zu frönen und muss dem Kampf um politische Deutungshoheiten widerstehen. Wer ihren Verfechtern vorrangig politische Motivationen unterstellt, argumentiert aus einer „Haltet den Dieb“-Reaktion heraus. Einige Kritiker negieren gar den Begriff des Linksextremismus. Antifaschismus ist weitaus wirkungsmächtiger als Antikommunismus. Aber nicht jeder Antifaschist verficht demokratische Positionen.

Es besteht keine Einigkeit mehr darin, wer als extremistisch zu gelten hat, jedenfalls mit Blick auf die linke Variante, sofern diese weder Gewalt anwendet noch propagiert. Hingegen wird gegen die rechte Variante des Extremismus, ob gewalttätig oder nicht, mitunter unerbittlich argumentiert. Die Position, eine spezifische Auffassung sei „gefährlich“, provoziere den „Beifall von der falschen Seite“, verkennt den Sinn wissenschaftlicher Diskurse, die an triftigen Argumenten interessiert sein müssen. Wer „Beifall von der falschen Seite“ vermeiden will, muss dann konsequenterweise das Gegenteil der „falschen Seite“ machen.

Das kann schwerlich überzeugend sein, denn dann bestimmt diese die Politik. Und was heißt überhaupt „falsche Seite“? Ist diese Form des Dualismus, die auf ein Freund-Feind-Denken hinausläuft, in einer parlamentarischen Demokratie überhaupt angemessen? Und kann nicht auch die „falsche Seite“ zuweilen recht haben? Letztlich ist niemand vor ihrem „Beifall“ sicher.

Als am 5. Februar in Thüringen der FDP-Kandidat, Thomas Kemmerich, mit den Stimmen der CDU und der AfD, wahrlich keine Gralshüterin der Demokratie, zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, war die Aufregung tagelang riesengroß.

Dieser Umstand führte drei Tage später zu seinem Rücktritt. Die Wahl mit den Stimmen der AfD sei unverzeihlich. Die CDU sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, mit ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss von 2018 – „Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab“ – Die Linke und die AfD gleichzusetzen.

„Thüringer Verhältnisse“

In der Tat gibt es bei beiden Parteien extremistische Kräfte. Von denen in der AfD ist unentwegt die Rede, von denen bei der Partei Die Linke hingegen kaum. Insgesamt fällt der Umgang mit der AfD exkludierend aus, jener mit der Partei Die Linke inkludierend. Wir erleben eine Verschiebung des politischen Koordinatensystems: auf der einen Seite die AfD, auf der anderen das gesamte andere politische Spektrum. Das ist wenig plausibel.

Viele der Kritiker, die hier die (behauptete) Gleichsetzung akzeptieren, befleißigen sich selbst einer Form der inakzeptablen Gleichsetzung. Sie unterscheiden bei ihrem notorischen „Kampf gegen rechts“ nicht zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“. Der Begriff „rechts“ ist so negativ besetzt, dass jeder, der damit in Verbindung gebracht werden kann, ins moralische Abseits gerät und in gewisser Weise „erledigt“ ist. Eine funktionierende Demokratie braucht auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums angesiedelte Positionen.

Und wer sich als „links“ versteht, gilt vielfach schon deswegen als demokratisch, weil er gegen „rechts“ Stellung bezieht. So wie rechts gibt es ebenso links Antidemokraten. Diese Selbstverständlichkeit sollten Demokraten akzeptieren. Eine Revitalisierung und Neufundierung des antiextremistischen Gründerkonsenses der zweiten deutschen Demokratie tut not. Das „juste milieu“ ist oft bequem. Dies gilt für Teile der Politik, Publizistik und Wissenschaft gleichermaßen.

Links ist, wer gegen rechts ist

Ein besonderes Defizit: das fehlende Äquidistanzgebot. Wer feststellt, dass in einem Fall eine linke Kraft dem demokratischen Verfassungsstaat nähersteht (Die Linke im Vergleich zur NPD), in einem anderen eine rechte (die AfD im Vergleich zur Deutschen Kommunistischen Partei), verstößt nicht gegen diese Maxime. Die extremistische Intensität ist entscheidend. Doppelstandards, wie sie etwa Antifaschisten vertreten, sind unglaubwürdig.

Wer nicht die gleichen Maßstäbe bei der Bewertung des rechten, des linken und des fundamentalistischen Extremismus zugrunde legt, macht sich einer verzerrten Sichtweise schuldig und gibt den antiextremistischen Konsens im Kern auf. Manche Reaktion auf die „Thüringer Verhältnisse“ ist dafür ein Symptom.

Da die Bundesrepublik Deutschland eine gefestigte Demokratie ist (und längst keine Schönwetterdemokratie mehr), verbietet sich bei der Auseinandersetzung mit allen Formen des Extremismus ein jakobinisches Vorgehen. Gegen extremistische Bestrebungen rigoros einzuschreiten kann unter Umständen die Liberalität beschädigen.

Wir brauchen in Deutschland eine in erster Linie argumentativ ausgerichtete Streitkultur – der Ruf nach einem starken Staat, der hart durchgreift, ist ein Zeichen der Schwäche. Die offene Debattenkultur muss gepflegt werden. Gefragt ist Auseinandersetzung, nicht Dämonisierung. Und Demokraten müssen sich von Extremisten abgrenzen, dürfen sie aber nicht ausgrenzen. Was für Deutschland gilt, sollte ebenso für andere Staaten gelten.

Der Autor

Eckhard Jesse ist emeritierter Professor an der TU Chemnitz, seit 1989 Mitherausgeber des „Jahrbuchs Extremismus & Demokratie“. Er war von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2020)

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