Das rote Wien: „Der neue Mensch“ blieb Schimäre

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rote Wien bdquoDer neue(c) APA/ROLAND SCHLAGER (ROLAND SCHLAGER)
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Die Gemeindebauten waren nur ein Bauteil in einem ehrgeizigen Gesellschaftsmodell. Wohlfahrt, Fürsorge, Kultur, Bildung, Feuerbestattung: Der Reformer hieß Julius Tandler.

Als die Sozialdemokraten 1920 in Wien die Führung übernahmen, herrschten Not, Hunger, Kälte. Die vertraute Welt war durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs für immer verschwunden. Für die Rathaus-Verantwortlichen galt es daher zunächst, die Grundversorgung sicherzustellen, der drückenden Wohnungsnot ein Ende zu setzen (siehe „Die Welt bis gestern“ vom 17.Juli).

Alles, was für eine Infrastruktur nötig war, mussten die Sozialdemokraten freilich nicht neu erfinden. Es war der christlich-soziale Parteipolitiker Karl Lueger, der noch in der Monarchie die Gaswerke und die „Tramway“ von privaten Konzernen zurückgekauft, „verstadtlicht“ hatte. „Was im öffentlichen Interesse ist, soll auch von öffentlichen Organen verwaltet werden“: Das hätte auch von den „roten“ Nachfolgern im Rathaus stammen können.

Elektrizitäts- und Gasversorgung waren also gesichert, ebenso ein akzeptables öffentliches Schienennetz (die „Stadtbahn“) und die 2.Wiener Hochquellenwasserleitung vom Hochschwab. Das städtische Pflegeheim in Lainz existierte bereits, wenngleich die Versorgung alter, kranker, arbeitsunfähiger Menschen noch sehr zu wünschen übrig ließ.

Breitners „Wohnbausteuer“

Die sozialen Versäumnisse aus der Zeit der untergegangenen Doppelmonarchie galt es nun auszumerzen. Neue helle Kommunalwohnungen waren der erste Schritt, der in Europa viel bewundert wurde. „Errichtet aus den Mitteln der Wohnbausteuer“ steht heute noch stolz in roten Lettern auf vielen Gemeindebauten.

Der Ehrgeiz der marxistischen Ideologen griff aber viel weiter aus. Obwohl es Illusion blieb, die Menschen zu verändern, zu „veredeln“, versuchte man es. Kulturangebote sollten das Bildungsniveau all jener heben, denen durch die familiären Umstände eine Schulbildung über die Volks- und „Bürgerschule“ hinaus versagt geblieben war. Die bedeutendsten Theoretiker der Arbeiterbewegung lehrten ehrenamtlich an diesen „Volkshochschulen“: Otto Bauer, Julius Deutsch, Karl Renner. Der Setzereiarbeiter Franz Jonas, später Bundespräsident, war ein Schüler, wie ihn die Bewegung als Idealbild gern sah: Antialkoholiker, Nichtraucher, Esperanto-Schüler, wissenshungrig. Anton von Webern leitete die Arbeitersymphoniekonzerte im Großen Musikvereinssaal.

Zum dankbaren Mieter einer Gemeindewohnung gehörte wie selbstverständlich ein Abonnement der „Arbeiter-Zeitung“ und das Mitgliedsbuch der Arbeiterbibliothek. In fast jedem kommunalen Wohnblock gab es eine Filiale. Denn: „Wissen ist Macht!“

Ein Anatom als Stadtrat

Doch zu diesem gesunden Geist musste sich ein gesunder Körper hinzugesellen. Es war der renommierte Universitätslehrer Julius Tandler, der die Gesundheitsreformen als Amtsführender Stadtrat in Wien leitete. Ein „Quereinsteiger“: Tandler gehörte zu den führenden Anatomen der Universität Wien, der sich unter anderem einem schrulligen „Orchideenfach“ widmete: der wissenschaftlichen Untersuchung des Schädels Joseph Haydns. Einen schaurigen Hintergrund hatte Tandlers Erbgesundheitslehre. In Vorträgen und Publikationen trat er vehement für die Vernichtung, zumindest aber für die Sterilisierung „unwerten Lebens“ ein. Eine weithin bekannte Tatsache, die heute aber mit Eifer verschwiegen wird. Das unbestreitbare Verdienst Julius Tandlers ist das Wiener Wohlfahrtswesen. Schulärzte spielten darin ebenso eine Rolle wie Schulzahnkliniken, Kindergärten, Kinderübernahme- und Mutterberatungs- sowie Eheberatungsstellen. Das kostenlose „Wiener Säuglingspaket“ für den Start ins Leben wurde ein europaweit bekannter Begriff. Tandler engagierte sich auch für die Bekämpfung der als „Wiener Krankheit“ bezeichneten Tuberkulose, die in den feuchten, muffigen Arbeiterwohnungen grassierte.

Die erste Krebsberatungsstelle

1923 initiierte er die Schaffung des heutigen Julius-Tandler-Familienzentrums als Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien. Gemeinsam mit dem Chirurgen Leopold Schönbauer errichtete er in Wien die erste Krebsberatungsstelle. Als dritte Stadt weltweit kaufte Wien Radium, damit im Krankenhaus Lainz Krebspatienten bestrahlt werden konnten. Die Finanzierung musste der Finanzstadtrat Hugo Breitner übernehmen, der Tandler deswegen als seinen „teuersten Freund“ bezeichnete.

Streit ums Krematorium

Selbst der Tod sollte sozialdemokratisch inszeniert werden. Da sich die katholische Kirche strikt gegen die Feuerbestattung aussprach, war es ein Akt des Bekenntnisses, wenn das „Rote Wien“ für die Leichenverbrennung eintrat. Nach heftigen Auseinandersetzungen durfte Clemens Holzmeister beim Zentralfriedhof das erste Krematorium planen und bauen.

In den frühen Dreißigerjahren wirkte Tandler auch im Rahmen der Hygienesektion des Völkerbundes mit, der Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen.

Als die sozialdemokratischen Einrichtungen nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 von der Regierung Dollfuß verboten wurden, war auch für den Stadtrat Tandler das Ende seiner Arbeit gekommen. Der zwangsweise Pensionierte ließ sich von den Sowjets als Berater für die Moskauer Spitalsreform engagieren. In Moskau ist er auch gestorben.

So erfolgreich die Sozialdemokratie in der Millionenstadt Wien auch arbeitete – auf Bundesebene verdüsterte sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation zusehends. Nach 1920, als die Große Koalition in Scherben ging, hatten die Christlichsozialen die Macht im Lande. Die prägende Figur war Bundeskanzler Ignaz Seipel, ein Priester, ein Gelehrter und Sozialpolitiker. Sein ebenbürtiger Gegner war Otto Bauer, der zwischen den Pragmatikern und den Scharfmachern in seiner Partei so lange lavierte, bis ihm die Kontrolle über die Massen entglitt. Zwei bewaffnete Parteiarmeen standen einander ohne Gnade gegenüber. Die Explosion aufgestauter Wut (Justizpalastbrand, 1927) sollte der Anfang vom Ende der Ersten Republik werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2010)

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