Erdoğans Sieg und die Droge der Macht

Die Verfassungsreform ermöglicht dem türkischen Premier einen stärkeren Zugriff auf die Justiz.

Eine solche Blamage zu liefern ist eine Leistung: Da hat Kemal Kilicdaroglu, Chef der kemalistischen Opposition in der Türkei, wochenlang landauf, landab für ein Nein beim Verfassungsreferendum vom Sonntag getrommelt – und dann schaffte er es nicht einmal, selbst abzustimmen. Offenbar gab es Probleme mit dem Melderegister. Ein stimmigeres Bild für das seit Jahren notorische Scheitern von Atatürks einstiger Staatspartei hätte man gar nicht erfinden können.

Dem entspricht die Schlappe, die Kilicdaroglu auf Landesebene erlitt: Mit 58Prozent hat die Bevölkerung die 26 Artikel, die von der islamisch-konservativen Regierung vorgelegt worden sind, bestätigt und Premier Recep Tayyip Erdoğan erneut einen großen persönlichen Erfolg beschert. Nur offiziell ging es am Sonntag aber um Verfassungsänderungen. Hinter den 26 Paragrafen stand noch eine andere Frage. Die Kemalisten als wichtigste Oppositionspartei hatten das Referendum zur Abstimmung über Erdoğan stilisiert. Sie witterten die Gelegenheit, dem auch schon wieder acht Jahre regierenden Premier ein Jahr vor der nächsten Wahl endlich eine schmerzhafte Niederlage zuzufügen.

Dessen Regierung hatte die Polarisierung freilich selbst gesucht, indem sie die 26 Artikel dem Volk nicht einzeln, sondern als Paket vorsetzte, nach dem Motto: Entweder du nimmst alles, oder du bekommst nichts. Unstrittige Dinge wie der Schutz von Kindern oder die Bewahrung der Privatsphäre waren da mit heißen Eisen wie der Bestellung der Höchstrichter verquickt. Auf ein Kompromissangebot der Kemalisten, über dessen Ernsthaftigkeit sich freilich streiten ließ, ging die Regierung nicht ein. Auch dadurch leistete Erdoğan dem Verdacht Vorschub, es gehe ihm gar nicht um Grundrechte und Demokratisierung. Nach Meinung der alten Elite ging es dem Premier um etwas ganz anderes: um die schleichende Errichtung eines autoritär-islamischen Staatswesens, die die Opposition bisher noch hinter jeder Aktion dieser Regierung auszumachen meinte. Damit holt sie jenes Schreckgespenst aus der Mottenkiste, mit dem sie schon seit zehn Jahren keinen Erfolg hat.

Mit einem hat sie freilich recht: Das Regierungslager stärkt durch die Reform seinen Zugriff auf die Justiz – die Zahl der Höchstrichter steigt von elf auf 17. Da die Ernennung der Richter beim Parlament und beim Präsidenten liegt (derzeit Erdoğans braver Gefolgsmann Abdullah Gül), hat die islamisch-konservative AKP derzeit alle Trümpfe in der Hand. Dass es den Kemalisten aber bei ihrem Protest um die Gewaltenteilung ging, wie sie treuherzig behaupteten, nimmt man ihnen wirklich nicht ab. Sie sahen vielmehr wohl zu Recht die Gefahr, dass ihre neben dem Militär wichtigste Hochburg geschleift wird.

Das Verfassungsgericht hat in den letzten Jahren keine Gelegenheit ausgelassen, der AKP, die es als „Zentrum anti-laizistischer Aktivitäten“ betrachtet, sozusagen in den Ayran zu spucken: Die Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten, eines von Erdoğans Leibprojekten für seine islamisch-konservativen Schäfchen, wurde kassiert, die AKP selbst um ein Haar verboten, die Verfassungsreform abgeschwächt. Man könnte also den strittigsten Punkt der Reform auch schlicht als Rache Erdoğans an den Richtern interpretieren, als klassische, unschöne Umfärbeaktion – und damit als Präventivschlag vor neuer Unbill.

Freilich bringt die Reform auch viele Fortschritte: Am hochsymbolischen Tag des 1980er-Putsches angenommen, ermöglicht sie in der Theorie, die Anführer dieses Coups vor Gericht zu stellen. Ob das je geschieht, ist die andere Frage. Ganz ausschließen kann man es nach all den Jahren, in denen Erdoğan die Armee per Salamitaktit schleichend entmachtet hat, nicht. Der vielleicht wichtigste Fortschritt: Die Befugnisse der Militärgerichte werden zurechtgestutzt, künftig können Zivilisten nur mehr im Kriegsfall belangt werden.

Vielleicht war der Wirbel aber auch nur ein hitziges Sommertheater: Noch am Abend der für sie so erfolgreichen Abstimmung verlautete aus der Regierungspartei, man wolle nun eine ganz neue Verfassung. Denn trotz aller Änderungen stammt der Kernbestand noch aus der Feder der letzten Putschgeneräle. Immer wieder ist zu hören, Erdoğan strebe eigentlich ein Präsidialsystem à la Frankreich an, selbstverständlich mit niemand anderem als sich selbst an der Spitze. Bei allen Meriten, die sich Erdoğan gerade um den wirtschaftlichen Fortschritt seines Landes erworben hat: Es ist mittlerweile Wachsamkeit geboten, dass er der Droge Macht nicht alles andere unterordnet.

Berichte Seite 6

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

TuerkeiReferendum erster Schritt
Außenpolitik

EU: Türkei-Referendum nur "ein erster Schritt"

Die internationale Gemeinschaft lobt den Volksentscheid für eine neue türkische Verfassung. Die EU mahnt aber gleichzeitig weitere Reformen ein. Der deutsche Außenminister warnt davor, Ankara vor den Kopf zu stoßen.
Erfolg fuer Erdogan Tuerkei
Außenpolitik

Erfolg für Erdogan: Türkei stimmt für neue Verfassung

Die türkischen Wähler sagten mehrheitlich Ja zur Verfassungsreform-Vorlage der gemäßigt-islamistischen Regierung. Regierungschef Erdogan jubelt über einen "Wendepunkt für die türkische Demokratie".
Tuerkische Verfassungsreform international begruesst
Außenpolitik

Türkische Verfassungsreform international begrüßt

US-Präsident Obama lobt die "Lebendigkeit der türkischen Demokratie".
Außenpolitik

Die wichtigsten Punkte der Verfassungsreform

Erdogans Partei AKP hatte das Paket im Frühjahr um Parlament durchgesetzt. Anschließend ließ das Verfassungsgericht das Vorhaben mit kleineren Abstrichen passieren.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.