Online-Zeitung "Politico": Polit-Junkies am Potomac

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Die Online-Zeitung Politico hat sich als Insider-Medium für Washingtons Machtzirkel etabliert. Als fixe Größe behauptet sie sich gegen die Printmedien.

Morgens zwischen sechs und sieben Uhr drückt Mike Allen in seiner Bürokoje im sechsten Stock eines Glasturms in Rosslyn auf die Taste und verschickt sein „Playbook“ per E-Mail an die virtuelle Gefolgschaft seiner rund 30.000 Aficionados. Es sind Washingtoner Polit-Junkies und Mitglieder des „Beltway“-Zirkels wie er selbst: Mitarbeiter des Weißen Hauses, der Ministerien und des Kongresses, Journalisten und Lobbyisten.

Für sie kompiliert der 45-jährige Glatzkopf in seinem Newsletter allerlei Neuigkeiten und Nebensächliches – alles, was sich über Nacht ereignet hat, und manches, was geeignet erscheint, die Themen des Tages zu setzen. Heiße Gerüchte und Party-Tratsch finden sich darin, wer in den Frühstücks-Shows der US-Fernsehsender auftreten wird und noch einiges mehr. Die Lektüre ist inzwischen unverzichtbar geworden für Leute wie Dan Pfeiffer, den Kommunikationsdirektor des Weißen Hauses – Morgenroutine wie der Pappbecher Kaffee. Und auch tagsüber stehen Allen und Pfeiffer in regem E-Mail-Austausch. Nach eigenen Angaben empfängt Allen täglich 2000 Mails.


Konkurrenz zu Print.
Als Prototyp des Washington-Insiders und als Faktotum ist der Journalist Mike Allen omnipräsent in den Lobbys und Hinterzimmern der Macht. Wohlmeinende fragen besorgt: „Wann schläft Mikey eigentlich?“ Unter dem Titel „Der Super-Insider“ hat er es sogar aufs Cover des „New York Times“-Magazins gebracht.

Der Exreporter der „Washington Post“ und von „Time“ ist ein „Politico“, ein Polit-Besessener durch und durch – und Galionsfigur des gleichnamigen Online-Magazins, das die Spielregeln des Journalismus in der US-Hauptstadt neu definiert hat und sich mit ehrwürdigen Institutionen wie der „New York Times“ und der „Washington Post“ misst. Wie die News-Sender CNN, Fox News und MSNBC – Forum der „Chattering Classes“ und „Talking Heads“ – befeuert die Internet-Zeitung den 24/7-Nachrichtenkreislauf, der die Politkaste rund um die Uhr in Atem hält.

Von den „Washington Post“-Reportern John Harris und Jim VandeHei vor fast vier Jahren aus der Taufe gehoben, hat sich „Politico“ mittlerweile als echte Konkurrenz zu den traditionellen Printprodukten etabliert. Es beschränkt sich rein auf die Innenpolitik. In der Spezialisierung, in der Nischenfunktion wähnt Harris denn auch die Zukunft der Medien.

Die Feuerprobe bestand „Politico“ im Präsidentschaftswahlkampf 2008. Im Wahlkampf zu den Midterm-Elections im November mischt das Online-Blatt, das während der Kongress-Saison dreimal in der Woche in einer Auflage von 32.000 Exemplaren paradoxerweise auch gratis im Printformat erscheint – ganz ohne Papier geht's doch nicht –, erneut gehörig mit. Inzwischen wirft „Politico“ dank fetter Inserate Gewinn ab, wie Besitzer Robert Allbritton – Spross einer Verleger- und Bankiersdynastie, die einst den „Washington Star“ herausgab – zufrieden vermerkt.

Rund 100 Mitarbeiter – davon die Hälfte Reporter – werken in dem in dezentem Grau-Blau gehaltenen Newsroom in der Bürostadt Rosslyn jenseits des Potomac-Flusses, auf halbem Weg zwischen dem Heldenfriedhof Arlington und dem Nobelviertel Georgetown. „Politico“ hat unterdessen prominente Kolumnisten und Gastkommentatoren unter Vertrag genommen, manche Reporter zählen zum Stammrepertoire der einschlägigen Polit-Shows.

Unter Adrenalin.
Zur Lunch-Zeit am Freitagmittag rotiert das junge Team, die Journalisten stehen unter Adrenalin. Im Weißen Haus ist Sicherheitsberater James Jones zurückgetreten, und mit seinem Stellvertreter Tom Donilon steht sein Nachfolger bereits fest. Es ist die vorläufige Top-Meldung des Tages. Jetzt gilt es, so rasch als möglich die Hintergründe zu recherchieren, um gegen die vielfältige Online-Konkurrenz als Erster mit der Story herauszukommen. Um halb drei Uhr nachmittags ist die Geschichte als Spitzenmeldung auf der Website platziert, die Online-Ausgaben der „New York Times“ und der „Washington Post“ haben allerdings auch längst reagiert.

Die Tempospirale dreht sich immer schneller, der immense Druck und das Arbeitspensum bei „Politico“ haben erste Journalisten verschlissen und zur „Washington Post“ oder anderswohin getrieben. Währenddessen rekrutieren die Online-Portale „Huffington Post“ und „Daily Beast“ renommierte Printjournalisten wie „Newsweek“-Veteran Howard Fineman oder „Post“-Medienkritiker Howard Kurtz. „Daily Beast“-Chefin Tina Brown hat es gar auf eine Fusion mit „Newsweek“ abgesehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2010)

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