Erfolg International

Anna Kiesenhofer: Mit mathematischem Kalkül zu Olympiagold

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Anna Kiesenhofer begeistert sich für die Wissenschaft und das Radfahren. In Tokio krönte die Weinviertlerin ihren ganz eigenen Weg mit der Sensation.

Lausanne/Wien. Der nüchterne Blick auf eine Problemstellung zeichnet Anna Kiesenhofer aus. Als studierte Mathematikerin beschäftigt sie sich schließlich an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne mit partiellen Differenzialgleichungen. Dieselbe Akribie und Disziplin wie in der Wissenschaft legt die 30-Jährige auch beim Radfahren in die Pedale. So schaffte die leidenschaftliche Freizeitsportlerin Ende Juli in Tokio die Sensation und krönte sich zur Olympiasiegerin. Kiesenhofers Sieg im Straßenrennen war ein historischer: Es war Österreichs erste olympische Goldmedaille seit 2004 und erst die zweite überhaupt im Radsport – nach 125 Jahren.

Eigentlich wäre Kiesenhofer, die in der Kategorie „Erfolg international“ als Österreicherin des Jahres nominiert ist, lieber im Einzelzeitfahren gestartet, doch dafür hatte sie den Quotenplatz verpasst. Also analysierte die Olympia-Debütantin die 137-km-Strecke und kam zu einem eindeutigen Schluss: volle Attacke von Anfang an. Hinter dem Plan steckte nicht Übermut, sondern Kalkül. Da die Weinviertlerin keinem Profiteam angehört und kaum Erfahrung bei großen Radrennen hat, fühlt sie sich im Gedränge nicht wohl. Zu viele Gegnerinnen und damit unbekannte Variablen. Ihren Körper und den unbändigen Willen kennt Kiesenhofer hingegen ganz genau, es sollte deshalb ein Kampf mit bekannten Größen werden. Sie gewann ihn, zunächst in einer Fluchtgruppe und auf den letzten 41 Kilometern sogar ganz allein.

Die wissenschaftliche Karriere war für Kiesenhofer vorgezeichnet. Schon in der Schule begeisterte sie sich für Mathematik und Latein. „Ich war in jeder Hinsicht eine Streberin“, sagt sie. Sie studierte Mathematik an der TU Wien und machte ihren Master in Cambridge. Über Barcelona kam sie 2017 nach Lausanne und wollte auch das Radfahren auf ein neues Level heben. Den Versuch im belgischen Profi-Rennstall Lotto Soudal Ladies beendete sie jedoch nach wenigen Monaten wieder. „Ich habe gemerkt, dass der Profisport für mich ein zu großer körperlicher und psychischer Stress ist“, so ihre Conclusio. Denn während in der Mathematik alles einen Beweis braucht, sei sie im Sport zu vielen Trainern begegnet, die glaubten einfach alles zu wissen.

Kiesenhofer konzentrierte sich zwei Jahre lang ganz auf Forschung und Lehre, ehe sie 2019 den Neustart wagte. Mit eigenen Trainingsplänen und vielen gemeinsamen Ausfahrten mit Freund Olivier, den sie in einem Radklub in Lausanne kennengelernt hat. „Er motiviert mich und ist ein Vorbild in Selbstüberwindung und Schmerztoleranz“, so die mehrmalige Staatsmeisterin.

Kiesenhofer ist ihren eigenen Weg gegangen, hat dafür oftmals auf soziale Kontakte und Events verzichtet. „Ich bin der Typ, der große Opfer in Kauf nimmt, um dann den großen Erfolg zu haben.“ Olympiagold ist mehr als der Lohn, es sei auch die ultimative Bestätigung und lasse das Selbstvertrauen wachsen. Dem Radsport will die 30-Jährige noch einige Jahre treu bleiben. Sie ist nun ein Faktor, den die Konkurrenz einkalkulieren muss. (swi)


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