Die Regierungskrise wird am Samstag hinter den Kulissen diskutiert - und per Aussendnungen angeheizt. Die ÖVP attackiert Grüne und SPÖ: „Kurz muss weg“ sei kein politisches Konzept. Rendi-Wagner als Kanzlerin ein „No-go". Die SPÖ ortet „Realitätsverweigerung“ bei der ÖVP.
Nachdem sich die Protagonisten der Regierungskrise bis Freitagabend mit Pressestatements regelrecht überboten haben, blieb es am Samstag vorerst ruhig. Das Kanzleramt und der Grüne Klub waren auf Tauchstation, im Hintergrund laufen Beratungen innerhalb der Parteien. Am Samstagnachmittag treffen sich SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und FPÖ-Chef Herbert Kickl zu einem Gespräch. Die SPÖ-Chefin hatte zuletzt eine - bisher eher undenkbare - Zusammenarbeit der Roten mit den Blauen nicht ausgeschlossen.
Das nutzt die ÖVP wiederum, um angesichts des drohenden Endes der türkis-grünen Koalition ein rot-blaues Gespenst an die Wand zu malen. SPÖ-Obfrau Rendi-Wagner sei als künftige Kanzlerin "ein absolutes No-Go", warnte ÖVP-Klubobmann August Wöginger. ÖVP-Ministerin Elisabeth Köstinger rückte ebenfalls aus, um einen Generalangriff auf Grüne und SPÖ zu starten. Ganz Österreich werde Zeuge, „wie Grüne und SPÖ innerhalb eines Tages jahrzehntelange Haltungen und Überzeugungen ihrer Parteien über Bord werfen“, so die Ministerin. „Kurz muss weg“ sei das einzige Ziel der beiden Parteien, das gefährde die politische Stabilität des Landes.Einem fliegenden Regierungswechsel vonseiten der ÖVP in Richtung FPÖ erteilt Köstinger in der Aussendung eine Absage: „Mit dem Impfverweigerer Herbert Kickl ist jedenfalls kein Staat zu machen."
Rendi-Wagner geht nicht von Ministeramt für Kickl aus
Die SPÖ konterte umgehend und schickte dazu Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch aus: "Der türkise Machtzirkel leidet an Realitätsverweigerung, wenn er glaubt, einfach weitermachen zu können wie bisher", so Deutsch. "Kurz, Köstinger, Wöginger und Co. stehen für den moralischen Verfall der türkisen ÖVP, für die Anstand, Respekt und Verantwortung seit langem nur mehr Fremdworte sind." Kurz müsse sofort zurücktreten. Die "vernünftigen Kräfte in der ÖVP" sollten sich "von diesem mutmaßlich korrupten System Kurz lösen", empfahl Deutsch.
Rendi-Wagner hatte Freitagabend in der ORF-"ZiB2" recht zurückhaltend gemeint, auch als Bundeskanzlerin zur Verfügung zu stehen, sollte sie dadurch einen Beitrag zu mehr Stabilität im Land leisten können. Eine für sie unwahrscheinliche, aber dennoch mögliche Zusammenarbeit mit der FPÖ rechtfertigte sie mit der derzeitigen außergewöhnliche Situation. Rendi-Wagner geht nicht davon aus, dass etwa Coronamaßnahmen-Kritiker und FPÖ-Chef Herbert Kickl Gesundheitsminister einer solchen Regierung sein würde.
Keine Pressekonferenzen oder Termine am Samstag
Was bisher geschah: Mittwochfrüh hatten in den Büros und Privatwohnsitzen der engsten Berater von Kanzler Sebastian Kurz Hausdurchsuchungen stattgefunden, weil die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Inseratenkorruption vermutet. Es geht um mutmaßlich geschönte Meinungsumfragen und bestellte Berichterstattung in der Tageszeitung "Österreich", die mit Inseraten belohnt worden sein soll. Diese Anzeigen sollen vom Finanzministerium und damit vom Steuerzahler bezahlt worden sein, obwohl die ganze Konstruktion ausschließlich dem persönlichen Fortkommen des späteren ÖVP-Chefs gedient haben soll, wie es die Staatsanwaltschaft beschreibt. Gegen Kurz und neun weitere Verdächtige, darunter engste Vertraute des Kanzlers, wird wegen des Verdachts der Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit ermittelt.
Kurz weist die Vorwürfe zurück und klammert sich an sein Amt. Erst Freitagabend stellte er erneut klar, dass er nicht zurücktreten will. Für die Grünen geht sich allerdings eine Koalition mit einem ÖVP-Chef unter Korruptionsverdacht nicht aus, weshalb Vizekanzler Werner Kogler ausrückte und Kurz die Amtsfähigkeit absprach. Man wolle mit den Türkisen weiterregieren, aber nur, wenn dort eine "untadelige Person" Kurz ersetze. Andernfalls dürften die Grünen durchaus bereit sein, am Dienstag einem Misstrauensantrag der Opposition gegen Kurz zu einer Mehrheit zu verhelfen. In diesem Fall muss Bundespräsident Alexander Van der Bellen Kurz seines Amtes entheben. Offenbar gibt es von den Grünen zwar offenbar nach wie vor Versuche, innerhalb der ÖVP Partner für eine weitere Zusammenarbeit zu finden, doch Kogler soll nach Informationen auch in seinen jüngsten Gesprächen mit den Oppositionschefs keinen Zweifel daran gelassen haben, dass die Grünen dem Misstrauensantrag gegen Kurz zustimmen, sollte ihr Ultimatum nicht erfüllt werden.
Im Grünen Klub selbst herrschte am Samstag das große Schweigen. "Alles zur gegebenen Zeit", so Klubchefin Sigrid Maurer, andere Nationalratsabgeordnete wollten sich nicht äußern. Man sei in einer heiklen Phase, man wolle die derzeit laufenden Gespräche nicht durch Ansagen von außen stören, hieß es aus dem grünen Umfeld.
Freie Hand für Kogler und Maurer
Am späten Freitagabend haben auch die Grünen Länderspitzen getagt. Dort soll Geschlossenheit geherrscht haben, die Landesparteichefs sicherten Kogler und Maurer freie Hand zu. Kogler soll in der Sitzung für seinen derzeitigen Kurs Applaus geerntet haben. So sind sich zwar alle einig, dass Kurz weg muss, unterschiedliche Ansichten dürfte es aber noch darüber geben, wie es danach weitergehen soll. Die Festlegung von FPÖ-Chef Herbert Kickl, dass es ohne die Freiheitlichen nicht gehen wird, dürfte übrigens innerhalb kein allzu großes Hindernis sein.
Wie es nun am Wochenende tatsächlich weitergeht, ist unklar. Von der Grünen Spitze war vorerst kein Auftritt angekündigt. Das Kanzleramt war nicht erreichbar. Im Hintergrund Alternativen zu Kurz an der Parteispitze zu finden, dürfte ziemlich unmöglich sein, solange dieser selbst nicht bereit ist, aufzugeben, meinte ein Vertreter der "schwarzen" ÖVP.
Kocher-Tweet gibt Rätsel auf
Eine Botschaft von Arbeitsminister Martin Kocher (parteilos, aber von der ÖVP nominiert) gibt derweil Rätsel auf und befeuert Spekulationen zur Zukunft des türkisen Regierungsteams. Via Twitter teilte er einen Link zum Wikipedia-Artikel über das "Chicken"-Game, also das Feiglingsspiel. Dabei geht es darum, ob eine Seite in einer Konfrontation als erste einlenkt, oder ob beide ins Verderben stürzen.
Kocher kommt in den Berichten der WKStA zu den Ermittlungen rund um Kurz selbst vor. So gebe es Hinweise darauf, dass Thomas Schmid Druck auf das Institut für Höhere Studien (IHS), dessen damaliger Leiter der derzeitige Arbeitsminister war, ausüben wollte, weil es in einzelnen Fragen nicht auf Kurz' Linie war. Im Jänner folgte Kocher allerdings der wegen Plagiatsvorwürfen zurückgetretenen Christine Aschbacher (ÖVP) als Minister nach.
Das „Feiglingsspiel", oder auch „Spiel mit dem Untergang", ist ein Begriff aus der Spieltheorie: In dem Szenario fahren zwei Sportwagen mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zu. Wer ausweicht, hat das Spiel verloren. Tut dies keiner, haben beide Spieler zwar die Mutprobe bestanden, verlieren bei dem Zusammenprall allerdings ihr Leben. "Umso wichtiger", twittert Kocher zu dem Link: "Staatsräson >> Parteiräson" Eine Sprecherin des Ministers war Samstagvormittag für eine Interpretation des Tweets nicht erreichbar.
Mitreden bei den Ermittlungen gegen Kurz: Wie geht es mit Kanzler und ÖVP weiter? Diskutieren Sie mit!
(APA/Red.)