Sprachwissenschaft

Sprachen: Das Aussterben ist ein natürlicher Prozess

Uni Wien/George-Jean Pinault
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Ein Team der Uni Wien erstellt die weltweit einzigartige Datenbank für tocharische Texte. Melanie Malzahn schätzt digitale Methoden, um ausgestorbene Sprachen und das Leben dahinter besser entschlüsseln zu können.

Für alte Sachen und alte Sprachen interessierte sich Melanie Malzahn schon in der Kindheit. Eine Tutenchamun-Ausstellung in ihrer Heimatstadt Hamburg hätte fast den Ausschlag für ein Archäologiestudium gegeben. Doch gute Lehrerinnen und Lehrer im Gymnasium waren es dann, die ihre Liebe zur Sprachwissenschaft entfachten. „Tote Sprachen kennen die meisten als Altgriechisch oder Latein. Aber auch Sanskrit, ägyptische Hieroglyphen und die Keilschrift sowie die gotische Bibel zählen dazu“, erklärt Malzahn, Dekanin der Philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Die Sprachwissenschaftsprofessorin will in ihrer Forschung ausgestorbene Sprachen verstehen und sagt: „Um einen unbekannten Text zu entschlüsseln, müssen Sie wissen, was dort steht. Bei dieser Aussage lachen die Studierenden in meiner Vorlesung meist, aber es stimmt.“ Das Wichtigste, um einen alten Text zu übersetzen, ist ein Schlüssel, also ein Schriftstück, bei dem man auf den Inhalt schließen kann. Das können Grabinschriften sein, die Namen, Verwandtschaftsverhältnisse und Karrieren preisgeben. „Meistens werden alte Schriftdokumente nicht ohne Kontext gefunden“, bestätigt Malzahn. „Daher ist die Herangehensweise zur Sprachentschlüsselung heute gleich wie bei Altertumsforschern im 18. Jahrhundert. Was sich aber stark verändert hat, sind die technischen Möglichkeiten.“

Bevor es Digitalkameras gab

Die Sprachwissenschaften waren schon in den 1990ern bei den ersten, die Datenbanken aufgebaut haben – noch bevor es Digitalkameras oder ein überall verfügbares Internet gab. Heute fördern die „Digital Humanities“, also digitale Methoden der Geisteswissenschaften, die Zugänglichkeit zu Schriftdokumenten in weit entfernten Archiven, und Computerprogramme mit künstlicher Intelligenz entdecken in Fragmenten Zusammenhänge, die einzelne Forscherinnen und Forscher zuvor nicht sehen konnten. „Ein digitaler Suchvorgang ist effizienter, als ein Buch zu durchblättern“, sagt Malzahn, die früher selbst viele Monate im Keller der Pariser Nationalbibliothek verbrachte, um Karton um Karton zu öffnen und Schriftstücke zu transkribieren. Sie hat nun mit ihrem Team eine weltweit einzigartige Datenbank erstellt, die alle Dokumente der tocharischen Sprachfamilie sammelt (

siehe Lexikon

). Diese ausgestorbene Sprache aus buddhistischen Klöstern fasziniert Malzahn, obwohl sie noch nie direkt in die Region reisen konnte, wo Tocharisch vor 1700 bis 1000 Jahren gesprochen wurde. Auf die Frage, ob sich die Sprachwissenschaftlerin oft vorstellt, wie diese alte indogermanische Sprache geklungen hat, lacht Malzahn: „Das fragen mich immer Journalisten und das Publikum bei Science-to-Public-Vorträgen!“

Doch wissenschaftlich ist das gar nicht so interessant: Es gibt keine Tonaufnahmen und daher nur Vermutungen zur Aussprache. „Wir sind schon froh, wenn wir die Texte verstehen.“ Beim Tocharischen war das gar nicht so leicht, da es keine vollständigen Schriftstücke gibt, nicht einmal einzelne Blätter sondern nur Teile von Seiten. „Über 10.000 Fragmente sind in der Datenbank vereint. Da sind Computermethoden wertvoll, um Textbezüge deutlich zu machen oder automatisch metrische Analysen des Versmaß' zu schaffen.“

Die Texte liegen in der Datenbank „transliteriert“ vor, also in lateinische Buchstaben übertragen, sind übersetzt, kommentiert und mit Schlagwörtern versehen. Damit auch Leute, die an Buddhismus interessiert sind, aber kein Tocharisch können, die Inhalte nutzen können (https://www.univie.ac.at/tocharian).

Wikimedia

„Spannend ist, dass der tocharische Zweig so eigenständig ist: Da gibt es kaum Bezüge zu anderen alten indogermanischen Sprachen“, sagt Malzahn. Obwohl über Jahrhunderte Kontakt zu indischen und iranischen Sprachen bestanden hat, nahm diese östliche Variante in der Frühzeit nichts davon an. „Das ist kulturgeschichtlich sehr interessant. Erst in der historischen buddhistischen Zeit finden wir etliche Lehnwörter aus dem Indischen oder Iranischen im Tocharischen. Aber nicht aus der Zeit der Wanderungsbewegungen von tocharisch sprechenden Menschen aus dem Westen in das Gebiet des Tarimbeckens.“ Im modernen Uigurisch, einer türkischen Sprache, finden sich heute sehr wohl tocharische Lehnwörter.

Sprache mit höherem Prestige

Und wie beobachtet die in Österreich lebende Deutsche den Sprachwandel, wie erlebt sie das Aussterben alter Dialekte und Sprachen? „Wir historischen Sprachwissenschaftler sehen das relativ emotionslos“, gibt sie zu.

„Das Aussterben ist ein natürlicher Prozess: Im menschlichen System der Sprache können wir nichts konservieren.“ Kulturgeschichtlich blieb meist die Sprache übrig, die das höhere Prestige hatte. „Am Beispiel Europa sieht man gut, wie sich das Vulgärlateinisch durchgesetzt hat.“ Die römischen Strukturen boten den Menschen derartige Vorteile, sodass die Kinder mehr Chancen hatten, wenn sie Lateinisch sprachen als die Sprache ihrer Urgroßmütter.

Lexikon

Tocharisch sind indogermanische Sprachen, die im 1. Jahrtausend n. Chr. am östlichen Ende der Seidenstraße gesprochen wurden, im Gebiet des Tarimbeckens (heute Uigurische Autonome Region Xinjiang). Schriftliche Zeugnisse gibt es vom 5. bis ins 11. Jahrhundert n. Chr. Dann endet die Textproduktion der buddhistischen Klöster, weil die Menschen zum Islam übergetreten sind. Wann die Sprachen ausstarben, ist unklar. Einige tocharische Erbwörter sind den heutigen deutschen ähnlich: „pacer“ (Vater), „trai“ (drei), „stam“ (Baum), „malkwer“ (Milch).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2021)

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