Film

„In Liebe lassen“: Ein Mann lernt das Sterben

Catherine Deneuve als Schmerzensfrau, die ihren Sohn nicht gehen lassen kann.
Catherine Deneuve als Schmerzensfrau, die ihren Sohn nicht gehen lassen kann. Constantin
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Catherine Deneuve und Benoît Magimel als Mutter und krebskranker Sohn, geführt von einem weisen Arzt: So stark hat schon lang kein Film vom Sterben erzählt.

Kann es einen solchen Arzt wie im Film „In Liebe lassen“ wirklich geben? Wie sehr würde man ihn jedem von uns wünschen. Als der 39-jährige Schauspiellehrer Benjamin Boltanski mit seiner Mutter in der Klinik bei Dr. Eddé aufkreuzt, wartet eine schlimme Diagnose auf ihn: Krebs, mit einer Lebenszeit-Prognose von durchschnittlich sechs bis zwölf Monaten. Wie bringt man das einem 39-Jährigen bei – und seiner Mutter, gewohnt großartig gespielt von Catherine Deneuve? Benjamin versucht die Angst vor der Diagnose mit Witzchen zu überspielen, sie flüchtet sich in Aktionismus. Aber ihr Blick, umherirrend oder hilflos ins Leere gerichtet, verrät schon den Beginn der inneren Auflösung.

Die Mischung aus Ehrlichkeit und Wärme, fester Führung und feinfühligem Gewährenlassen, die Dr. Eddé im ersten Gespräch und in weiterer Folge an den Tag legt, lässt sich nicht beschreiben, man muss sie gesehen haben. Ob es solche Ärzte gibt? Es gibt sogar genau diesen Arzt: Es ist der New Yorker Onkologe Gabriel A. Sara. Er spielt nicht nur Dr. Eddé: Regisseurin und Drehbuch-Co-Autorin Emmanuelle Bercot hat sich bei ihrem Arztporträt auch an seiner Arbeitsweise orientiert. Abseits der Patienten erlebt man Eddé in Sitzungen mit seinem Team, immer gefolgt von gemeinsamem ausgelassenen Singen. Auch hier ist er nicht nur Arzt, sondern zudem Seelsorger.

Der echte Arzt besteht neben Filmstars

Hier wird ein Laie der Bühnenkunst zum ebenbürtigen Filmpartner für die Kinogrößen Catherine Deneuve und Benoît Magimel. Außerhalb der Klinik erlebt man Benjamin mit seinen Schauspielstudentinnen und -studenten. Diese kann er dazu bringen, sich ihren Gefühlen zu stellen, aus sich herauszugehen, ehrlich zu sich selbst zu sein. Er selbst vermag es nicht. Er müsse, um Frieden zu finden, seinen „Schreibtisch des Lebens“ mit all dem Krempel darauf aufräumen, ermahnt ihn Eddé. Doch trotz der kurzen Zeit, die Benjamin bleibt, dauert es lang, bis er beginnt. Und man erfährt, dass er einen Sohn hat, zu dem er als 19-Jähriger – beeinflusst von seiner Mutter – nicht stehen wollte. Benjamin kennt ihn nicht, und der Sohn kennt seinen Vater nicht.

Selbst wenn in der Klinik Tangotänzer für die Kranken tanzen, bleibt der Film ganz ruhig. Zu verjazzter Musik von Johann Sebastian Bach sieht man Benjamin einmal lang eine Erdbeere betrachten, als sähe er sie zum ersten Mal. Bei solchen Darstellern braucht es nicht viele Worte über Gefühle und Beziehungen – sie werden sichtbar gemacht. So auch die Verstrickungen einer Mutter-Sohn-Beziehung, in der sich der Sohn nie gegen die Mutter behauptet hat.

Weniges wird hier am Ende aufgelöst. Es wird nur immer spürbarer, dass auch ein Mensch wie Benjamin, der nutzlos gelebt und alles vermasselt zu haben glaubt, mehr hinterlässt, als er geahnt hätte; dass er noch etwas wiedergutmachen – und sich letztlich mit dem eigenen Tod versöhnen kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2022)

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