Gastkommentar

Rotes Kreuz: Geschützt, damit es schützt

Eine Hilfslieferung unterwegs in die Ukraine.
Eine Hilfslieferung unterwegs in die Ukraine. APA/AFP/ITALIAN RED CROSS/ANNALI
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Warum kann nicht auf jedem Bus oder Auto ein rotes Kreuz kleben? Vom Zwiespalt zwischen gutem Willen und dem Völkerrecht.

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Das Londoner Weaverly House Hotel hat schon mondänere Zeiten erlebt. In den verschlissenen Fauteuils in der Hotelhalle sitzen an diesem frühen Junimorgen vor 22 Jahren nur zwei Gäste: Ein junger Österreicher in dunkelblauem Anzug, dessen Anstecknadel ihn als Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ausweist; und ein in dezentes Grau gekleideter Mittfünfziger. Der Visitenkarte nach ist er Chefdesigner eines renommierten Londoner Grafikstudios, und er rührt einigermaßen fassungslos in seinem Tee. „Sie möchten was?“, fragt er nach. „Wir möchten“, wiederholt der Delegierte des IKRK, „dass Sie sich Gedanken über ein Symbol machen, das frei von politischen, religiösen und kommerziellen Bedeutungen ist und noch nirgends auf der Welt verwendet wird. Damit wir es gegebenenfalls anstelle des Rotkreuz-Zeichens verwenden können.“

Kabinettstück des Marketing

Wenn wer sich zur Idee versteigt, das bekannteste Symbol der Welt, das generisch für „Hier kommt Hilfe!“ steht, zu ersetzen; wenn jemand dieses „Kabinettstück des Marketing“ (der Anthropologe Jonathan Benthall) überhaupt zur Diskussion stellt, dann ist meist die Politik im Spiel. Und so war es auch im Jahr 2000. 192 Hilfsgesellschaften zählt die internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Sie umfasst 157 rote Kreuze und 35 rote Halbmonde. Sie alle müssen Bedingungen erfüllen, um Teil dieser weltweiten Bewegung der Hilfe sein zu können, darunter: Eines der beiden Zeichen verwenden und auf dem Territorium eines autonomen Staates tätig sein. Israel wollte aber den roten Davidstern verwenden, und die Palästinenser konnten kein eigenes Staatsgebiet vorweisen. So hat die Staatengemeinschaft in der Hitze der zweiten Intifada für beide einen Kompromiss in Form eines neuen Zeichens geschaffen: den „roten Kristall“.

Mehr als bloß ein Logo

Natürlich war in Wahrheit nie von einem neuen Zeichen die Rede, sondern immer nur von einem zusätzlichen. Aufwändig war der Prozess trotzdem. Weil Kreuz, Halbmond und Kristall mehr sind als bloß „Logos“. Sie sind weltweit anerkannte Symbole für den Schutz, den das humanitäre Völkerrecht in Kriegszeiten den Verwundeten und Kranken sowie denjenigen, die sie pflegen, gewährt. Hier kommt die Staatengemeinschaft ins Spiel: Die Zeichen und der damit verbundene Schutz sind in den Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen von 1977 geregelt. Alle Länder der Welt sind Signatarstaaten dieser Abkommen. Darunter Österreich, dessen Rotes Kreuz sich sein Zeichen auch nicht aussuchen kann. Es wird ihm vom Völkerrecht zugewiesen.

Die Verwendung der Zeichen unterliegt strengen Regeln. Im Krieg dürfen sie nur von den Sanitätsdiensten der Streitkräfte und von ermächtigtem zivilen Personal verwendet werden. In Friedenszeiten kennzeichnen sie Person, Fahrzeuge oder Gebäude, die einer nationalen Rotkreuz- oder Rothalbmond-Gesellschaft (an)gehören.

Schutz und Schild

Wer diese Zeichen trägt, arbeitet unabhängig und neutral zum Schutz von Kriegsopfern, und zwar von allen Kriegsopfern. So wird das Zeichen zum Schutzzeichen, denn die meisten Kämpfer verstehen doch: Die vom Roten Kreuz helfen zwar dem Feind – aber eben auch unseren Leuten. Also schießen wir nicht auf die. So wird Neutralität – allen zu helfen, ohne nach dem Grund einer Not zu fragen – und ihr Zeichen im Krieg zu einem Schutzschild. Deshalb sind die Zeichen auch geschützt: Damit sie schützen. Nicht nur gerade eben in der Ukraine, sondern auch in dutzenden anderen Kriegen, von Politik und Medien ignoriert und vergessen. Wo Menschen nicht mehr haben als die Hilfe vom Roten Kreuz.

Alle müssen verstehen

Deshalb muss die lebensrettende Bedeutung der Symbole des Roten Kreuzes, des Roten Halbmonds und des Roten Kristalls von allen Menschen verstanden werden. Alle, die diese Zeichen tragen, müssen Vertrauen genießen, damit sie diejenigen schützen können, die in Kriegen leiden. Deswegen dürfen diese Zeichen auch nur von denjenigen verwendet werden, denen das Völkerrecht sie zuweist. Wenn sie – wie gerade jetzt sehr oft beobachtet – auf Bussen oder Autos von Privatpersonen kleben, die Menschen aus der Ukraine evakuieren oder Hilfsgüter dorthin bringen, dann könnten Kriegsparteien ihrer Bedeutung nicht mehr trauen. Die fatalen Folgen für Kriegsopfer, die das hat, erleben wir in allen Kriegen, in denen keine Kameras stehen und die auf Twitter keine Aufmerksamkeit genießen. In denen nur mehr die Kriegsopfer sind. Und wir vom Roten Kreuz.

Mag. Michael Opriesnig ist Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes.

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