Ukraine-Krieg

Selenskij: "Moskau hat alles zusammengezogen, um gegen uns zu kämpfen"

Ein Bild aus dem zerstörten Mariupol. Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter Kontrolle bringen und forderte Hunderte ukrainische Kämpfer in einem Stahlwerk am Dienstag noch einmal zur Kapitulation auf
Ein Bild aus dem zerstörten Mariupol. Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter Kontrolle bringen und forderte Hunderte ukrainische Kämpfer in einem Stahlwerk am Dienstag noch einmal zur Kapitulation aufREUTERS
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Der ukrainische Präsident warnt vor einem großen russischen Truppenaufmarsch. Die Lage im schwer zerstörten Mariupol gilt als dramatisch. Nach Angaben des Asow-Regiments ist das Stahlwerk durch schwere Bomben praktisch komplett zerstört worden.

Die Ukraine sieht sich im Osten des Landes mit einem massiven russischen Truppenaufmarsch konfrontiert. "Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert", sagte Präsident Wolodymyr Selenskij in der Nacht auf Mittwoch in einer Videobotschaft. Als äußerst ernst bezeichnete er die Lage in der Hafenstadt Mariupol, wo das Asowstal-Stahlwerk offenbar komplett zerstört ist.

Die russische Seite habe "fast alle und alles, was fähig ist, mit uns zu kämpfen, zusammengetrieben", sagte Selenskij. Er forderte erneut Waffen. Die Lage in Mariupol sei "so schwierig wie nur möglich". Das russische Militär blockiere alle Versuche, humanitäre Korridore zu organisieren und ukrainische Bürger zu retten.

Bewohner der Stadt, die sich in den Händen russischer Einheiten befänden, versuche man zu "deportieren" oder in die russischen Truppen zu mobilisieren, kritisierte Selenskij. Leider bekomme man keine Antworten auf den Vorschlag eines Austauschs, der es erlauben würde, Zivilisten und Verteidiger der Stadt zu retten. Nähere Angaben zu dem Austausch machte er nicht.

Marineinfanteristen bitten um Evakuierung in Drittstaat

"Der Feind ist uns 10 zu 1 überlegen", sagte der Kommandant der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade, Serhij Wolyna, in einer am Mittwoch in der Früh auf Facebook veröffentlichten einminütigen Videobotschaft. "Wir appellieren an alle führenden Politiker der Welt, uns zu helfen." Russland habe Vorteile in der Luft, bei der Artillerie, den Bodentruppen, bei Ausrüstung und Panzern.

Die ukrainische Seite verteidige nur ein Objekt, das Stahlwerk Asowstal, wo sich außer Militärs noch Zivilisten befänden. Die Soldaten, mehr als 500 verwundete Kämpfer und Hunderte Zivilisten sollten per Helikopter oder Schiff evakuiert werden, sagte Wolyna dem Sender CNN. "Das ist unser Appell an die Welt. Das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein."

Ukrainische Streitkräfte zur Kapitulation aufgerufen

Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter Kontrolle bringen und forderte Hunderte ukrainische Kämpfer in einem Stahlwerk am Dienstag noch einmal zur Kapitulation auf. Diese weigerten sich jedoch. Am Dienstagabend kündigte die Armee eine Feuerpause bis Mittwoch, 14.00 Uhr Moskauer Zeit (13.00 Uhr MEZ) an.

Indes berichtete das Asow-Regiment, dass das Stahlwerk durch schwere Bomben praktisch komplett zerstört worden sei und viele Menschen unter den Trümmern begraben worden seien. "Wir ziehen Menschen aus dem Schutt", sagte der Vizechef des Asow-Regiments, Swiatoslaw Palamar, laut der Nachrichtenagentur Ukrinform. Er betonte, dass die Verteidiger "bis zur letzten Patrone" kämpfen werden. Zugleich rief er die Regierung auf, Zivilisten, Verwundete und Leichen aus der Stadt zu bringen.

GB: Moskau erreicht Ziele nicht so schnell wie erhofft

Das britische Verteidigungsministerium teilte unterdessen mit, dass die Ukraine zahlreiche Vorstöße russischer Truppen in der Ostukraine habe abwehren können. Wie es unter Berufung auf Geheimdienstinformationen hieß, werden die russischen Fortschritte durch das Gelände sowie logistische und technische Schwierigkeiten behindert. Dazu komme die Widerstandsfähigkeit der hochmotivierten ukrainischen Armee. Der fortgesetzte Widerstand in Mariupol und wahllose Angriffe auf Zivilisten seien Hinweise darauf, dass Moskau seine Ziele nicht so schnell wie erhofft erreiche.

Dem ukrainischen Chefunterhändler Mychailo Podoljak zufolge ist es schwer zu sagen, wann die Friedensgespräche mit Russland wieder aufgenommen werden könnten. "Vor dem Hintergrund der Tragödie von Mariupol ist der Verhandlungsprozess natürlich sogar noch komplizierter geworden." "Russland verweigert trotzig jegliches Zeichen von Menschlichkeit und Humanismus, wenn es um gewisse humanitäre Korridore geht. Vor allem, wenn wir über Mariupol sprechen." Seit dem 29. März haben keine direkten Verhandlungen mehr stattgefunden. Beide Seiten machen sich dafür gegenseitig verantwortlich.

Nach Angaben aus europäischen Kreisen könnte die Stadt am Asowschen Meer innerhalb von Tagen fallen. "Ich befürchte, dass es schlimmer werden wird als in Butscha", so ein Insider. Nach der Einnahme Mariupols könnte Präsident Wladimir Putin am 9. Mai die Stadt für "befreit" erklären - an dem Tag, an dem in Russland die Kapitulation Nazi-Deutschlands gefeiert wird, hieß es weiter. Das mittelfristige russische Ziel sei wohl, die Luhansk- und Donezk-Regionen im Donbass zu kontrollieren sowie eine Verbindung zwischen der Krim und dem Donbass herzustellen. Dies dürfte vier bis sechs Monate dauern. Der Konflikt könnte dann in einer Patt-Situationen münden.

Auch Städte im Süden unter Beschuss

Derweil wird auch an anderen Stellen in der Ukraine heftig gekämpft. Im südukrainischen Gebiet Saporischja melden die Behörden schwere Kämpfe um die Kleinstadt Polohy. "Die Männer halten die Verteidigungslinie, aber es läuft ein massiver Angriff des Gegners", erklärte der Gebietsgouverneur Olexander Staruch. Auch aus der südukrainischen Kleinstadt Mykolajiw wurden in der Nacht auf Mittwoch laut dem Bürgermeister der Stadt mehrere Explosionen gemeldet. Der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian zufolge berichteten Bewohner der Stadt zudem davon, dass stellenweise Feuer ausgebrochen sei. Über Schäden und Opfer gab es zunächst keine Angaben.

Im Gebiet Luhansk meldeten die Separatisten die Einnahme der Kleinstadt Kreminna. Diese sei "vollständig" unter Kontrolle der Einheiten der "Volksrepublik", teilte die Luhansker "Volksmiliz" am Dienstagabend auf Telegram mit. Auf einem angehängten Video ist zu sehen, dass auf der Eingangstür der Stadtverwaltung eine russische Fahne hängt. Der ukrainische Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, hatte am Montag berichtet, dass die Kontrolle über die Kleinstadt nördlich der Großstadt Sjewjerodonezk verloren gegangen sei. Laut der jüngsten Analyse des US-Kriegsforschungsinstituts ISW war der Vorstoß nach Kreminna die einzige russische Bodenoffensive binnen 24 Stunden, die "signifikante Fortschritte" gemacht habe.

Der ukrainische Generalstab teilte mit, dass im Donbass die Kleinstadt Marjinka wieder unter der Kontrolle Kiews sei. "In Richtung Donezk im Gebiet der Stadt Marjinka hat der Feind durch einen Gegenangriff unserer Streitkräfte hohe Verluste erlitten und sich zurückgezogen" - die ukrainischen Einheiten hätten die Kontrolle über die Ortschaft wiedergewonnen, hieß es im Lagebericht des Generalstabs.

(APA/dpa/Reuters)

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