Erst brachte eine Welle von Rücktritten Boris Johnson in Bedrängnis, dann forderten ihn mehrere ranghohe Minister zum Rücktritt auf. Doch der Premier winkt ab und klammert sich an die Macht.
Sind es Stunden, Tage oder Wochen? Den ganzen Mittwoch lang spekulierte man in Westminster über die Frage, wie lange Boris Johnson noch in der Downing Street ausharren könne. Am Abend sah es so aus, als stehe er kurz vor dem Aus. In den Stunden zuvor hatte es eine Flut von Rücktritten aus Regierungsposten gegeben, zunehmend glich Downing Street einem sinkenden Schiff. Kurz vor 18:00 Uhr Ortszeit fanden sich die Kabinettsmitglieder in der Downing Street ein – die meisten waren da, um dem Premierminister den Rücktritt nahezulegen.
Der Doppelschlag am Vorabend, als Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid hinschmissen, stellte sich als ein Dammbruch heraus: Seither sind über dreißig Staatsminister und politische Berater zurückgetreten. Zudem haben sich unzählige Fraktionsmitglieder auf Twitter und Facebook gemeldet, um dem Premierminister ihr Misstrauen auszusprechen. In einer vernichtenden Rede zog der zurückgetretene Javid am Mittwoch Nachmittag scharf mit Johnson ins Gericht. Er sagte, seiner Regierung fehle es an „Wahrheit und Integrität“. „Irgendwann müssen wir alle zur Einsicht kommen, dass es reicht“, sagte Javid. „Ich glaube, dieser Zeitpunkt ist jetzt.“
Johnson hingegen reagierte zunächst so, wie man es von ihm gewöhnt ist. Schnurstracks hat er sich daran gemacht, die vakanten Posten zu besetzen: Er ernannte Nadhim Zahawi zum Finanzminister und Steve Barclay zum Gesundheitsminister. Weitermachen, als sei nichts geschehen: Das scheint das Motto des Premiers. Bei der wöchentlichen Fragestunde im Unterhaus zeigte sich Johnson kämpferisch: „Es ist meine Pflicht, das Land durch schwierige Zeiten zu führen, und das werde ich tun.“ Es schien, als verweigere er sich erneut der Realität.