Ein Sonderheft der Zeitschrift „Osteuropa“ über den Ukraine-Krieg liefert breites Quellenmaterial und historische Hintergründe. Es lehrt, Demagogie und Fakten zu trennen.
Das ukrainische Staatsoberhaupt braucht man nicht vorzustellen. Wolodymyr Selenskij, der jugendlich wirkende Präsident im Military Look, der seit dem 24. Februar 2022 zum ständigen Gast in unseren Wohnzimmern geworden ist, hat für seine Landsleute und die westlichen Beobachter eine eindeutige Rolle bekommen. Gleichsam über Nacht vermittelte er auf eine völlig neue Art von Video-Kommunikation das Bild eines kämpferischen, nervenstarken, Mut machenden Staatsmannes, der es versteht, alle rhetorischen Register zu ziehen, wenn es darum geht, seinen Mitbürgern Zuversicht und seinem Land Unterstützung von außen zu verschaffen. Hatte er vor dem russischen Überfall eine Zustimmung von rund 31 Prozent der ukrainischen Bevölkerung, wurden es danach 90. Sieht man sich die Situation des Landes vor dem 24. Februar an, ist diese Art von Geschlossenheit ein absolutes Novum.
Wie es so ist bei Symbolfiguren: Es ist nicht sein Verdienst, dass die Ukraine bis jetzt trotz der militärischen Übermacht des Gegners nicht untergegangen ist. Es ist die Armee, es sind die Freiwilligen, es ist die Moral der Gesellschaft insgesamt, die standhält und ihre Freiheit und Selbstbestimmung bewahren will. Man hat das dem Land nicht zugetraut. Die ukrainische Politik der Vergangenheit war geprägt von schwachen Institutionen, von stringenter Reformpolitik war in den letzten 20 Jahren keine Rede. Ständig wurde sie durch Konflikte zwischen den regionalen und ökonomischen Interessensgruppen blockiert.