Buch-Tipps

Lesestoff für den Spätsommer

Die letzten Sommertage wollen wohl verbracht werden.
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Was macht eine Ökosekte im Wiener Schwarzenbergpark? Wie klingt die slowenische Riviera? Und wie fühlt sich das queere Nachtleben in Seoul an?

Akut - Michel Jean

100 Jahre wurde Michel Jeans Großmutter alt. Mit ihrem Begräbnis beginnt der frankokanadische Autor seinen biografischen Roman, in dem er die Geschichte einer Frau erzählt, die in ihrer Kindheit noch als Nomadin lebte. Parallel dazu schildert er seine eigene, nicht immer einfache Identitätssuche. 2011 schrieb ihm eine Cousine, er sei nun aufgrund einer Gesetzesänderung berechtigt, sich als indigener Einwohner registrieren zu lassen – ein Status, der seiner Großmutter aberkannt worden war, nachdem sie einen Weißen geheiratet hatte. Während Michel Jean in der Schule von Entdeckern und Missionaren lernte und so manchen rassistischen Tiefschlag einstecken musste, sog seine Großmutter Jeanette als Kind noch das Wissen ihrer Innu-Vorfahren auf.

Jedes Jahr im Herbst zogen die Familien vom Pekuakami-See, der 160 Kilometer westlich des Sankt-Lorenz-Stromes liegt, in den Norden, um dort den Winter zu verbringen. Jeanette lernte jagen, Fallenstellen und respektvoll mit „Nitassinan“ – so nannten die Innu ihr Land – umzugehen. In der Parallelführung der zwei Leben, das von Jean und das seiner Großmutter, zeigt sich drastisch, wie rasch sich die Lebensumstände für die First Nations in Kanada verändert haben, ihr Land enteignet und ihre Kulturen zerstört wurden – und erst allmählich ein holpriger Wiedergutmachungsprozess einsetzte. Wie schon mit seinem Vorgängerroman „Kukum“, in dem es um Jeans Urgroßmutter geht, erweckt der Autor das zu vielen Teilen zerstörte Kulturerbe ­seiner Vorfahren zu neuem Leben.

Erzähl es den Bäumen - Edie Calie

Es kommt nicht oft vor, dass man ein Buch öfter absetzen muss, um über das Gelesene herzlich zu lachen. Die 1987 geborene Wahlwienerin Edie Calie hat mit ihrer sympathisch-selbstironischen Ich-Erzählerin Martina Hölderlein eine Figur geschaffen, von der man sich gern auf eine Recherchemission mitnehmen lässt. Ihr Job bei einer kleinen deutschen Zeitung langweilt die junge Journalistin. Im Verschwinden der ehemaligen Schulkollegin Katharina wittert sie allerdings eine ganz große Geschichte, der sie zum Missfallen ihres Lebensgefährten an jedem freien Wochenende nachgeht. Sie bringt die HR-Managerin eines Hotels dazu, ihr bei mehreren Gläsern Sekt indiskrete Personalinfos anzuvertrauen, schleust sich quasi undercover bei einer Wiener Öko-Sekte ein und reist zu einem Urwald nach Polen.

Hochkomisch wird es, wenn sie im Wiener Schwarzenbergpark mit Bäumen sprechen soll – und sich später dafür geniert, dem Wald allzu Persönliches gebeichtet zu haben. In die eigentliche Geschichte streut Edie Calie die unverblümten Gedanken und Kommentare ihrer Ich-Erzählerin ein und lässt es so wirken, als ob sich diese damit direkt an die Lesenden richtet. Das erinnert an TV-Serien wie „Fleabag“, wo die Protagonistin in den seltsamsten Situationen die vierte Wand durchbricht. Bei Calie geschieht das oft in langen Gesprächen mit Informanten, die der Journalistin dabei helfen, das Puzzle um die rätselhafte Katharina zusammenzusetzen. Pures Lesevergnügen.

Schlupflöcher - ­Tamara Štajner

Tamara Štajner zeigt mit ihrem Gedichtband „Schlupflöcher“, dass sich in einem Buch gleich mehrere Kunstformen nahtlos zusammenführen lassen. Die 1987 in Slowenien geborene Autorin, Musikerin und Künstlerin hat ihre Gedichte als Kompositionen angelegt. Wie das in der Theorie aussieht, lässt sich in der Mitte des Buches erfahren, wo einige Gedichte in Partiturform notiert sind. Auch Anhören ist möglich, indem man einen QR-Code scannt, der zu Videos führt, in denen Štajner selbst mit Stimme und Viola performt. Davon abgesehen sind die Gedichte eine kurzweilige Lektüre und in ihrer knappen, rhythmischen Sprache reich an Bildern, Motiven und Stimmungen.

Sie führen vom Alltag der Autorin in Wien und auf Reisen bis in ihre Kindheit nach Slowenien, in Pinienwälder und ans Meeresufer. Štajner erzählt darin von ihrem Herkunftsort Krško, von ihrem Großvater, der unter den Partisanen gekämpft und später eine Ferienanlage auf der Insel Lošinj betrieben hat, aber auch von der Corona-Erkrankung ihrer Eltern.

Love in the Big City - Sang Young Park

Young und Jaehee sind beste Freunde, sie teilen sich eine 30-Quadratmeter-Wohnung, sind jede Nacht unterwegs und helfen einander, sich die Affären vom Leib zu halten. Alkohol und Männerverschleiß erreichen ein „goldmedaillenverdächtiges Niveau“. Schnell gerät man in den Sog ­dieser Geschichte vom unbesorgten Leben zweier Mittzwanziger in der hektischen 10-Millionen-Einwohner-­Metropole Seoul. Doch bald ändert sich der Ton. Jaehee wird schwanger, lässt abtreiben und entscheidet sich schließlich für ein bürgerliches Leben inklusive Heirat. Young will Schriftsteller werden, doch den Brotjob kündigt er, um seine todkranke Mutter zu betreuen, die wie durch ein Wunder den Krebs besiegt. Trotz Youngs Fürsorge schafft die strenggläubige Frau es nicht, seine Homosexualität zu akzeptieren. Mit 17 Jahren hat sie ihn deswegen in die Psychiatrie gesteckt.

Der südkoreanische Autor Sang Young Park zeichnet mit seinem international gefeierten Debütroman das Bild einer Gesellschaft, in der das queere Leben bei Nacht blüht und tagsüber die Tabus regieren. Während eines Spaziergangs im Park verleugnet ihn sein Freund, als sie auf dessen frühere Kommilitonen treffen. Mit dem gut­mütigen Gyu-ho scheint Young zeitweise sein Glück zu finden. Die titelgebende Liebe in der großen Stadt hat viele Gesichter, und ebenso viele Hindernisse stellen sich ihr in den Weg. Dazu gehört auch Kylie, wie Young seine Lebensbegleiterin nennt, mit der er sich über die Jahre arrangiert hat, es handelt sich dabei um das HI-Virus.

Gartentage - Sophie Reye

Sophie Reyer ist die produktivste österreichische Autorin. Der Roman „Gartentage“ ist ihr 96. Buch. Sie erzählt darin von der Begegnung dreier völlig unterschiedlicher Menschen. Der 17-jährige Jonathan hat sich unter ­Drogeneinfluss mit dem Skateboard auf die Autobahn gewagt – und nur mit Glück überlebt. Zur Bestrafung schicken ihn seine Eltern ein paar Wochen zur Großmutter aufs Land. Als er dort ankommt, nimmt gerade die ungarische Pflegerin Marika, deren Mann an Krebs verstorben ist, ihre Arbeit auf. Sie nennt die alte Frau liebevoll „Darling“, und schon ab den ersten gemeinsamen Schritten entwickelt sich zwischen den beiden Sympathie. Beim Rauchen kommen Marika, die kaum ein Wort Deutsch spricht, und Jonathan einander näher. Sophie Reyer erzählt abwechselnd aus den drei Perspektiven der Hauptfiguren und findet eine authentische literarische Sprache für die Innenwelt eines demenzkranken Menschen.

Im Gegensatz zu seinem Vater, der den Verfall der Mutter nicht akzeptieren kann und bei seinen Besuchen aggressiv wird, wenn die alte Frau verwirrt ist, baut Jonathan durch Marikas einfühlsame Betreuung eine neue Beziehung zur Großmutter auf. Gemeinsam wird getanzt, zum See spaziert und Hip-Hop gehört. Aus einer scheinbar trostlosen Situation dreier Menschen, die allesamt am Rande der Gesellschaft stehen, entwickelt sich so eine kleine Utopie.

Atemhaut - Iris Blauen­steiner

In einer vernetzten Welt ist die Paketlogistik das Rückgrat des Konsumlebens. Sie ist auch der Berufsalltag von Edin und Vanessa. Nach der Arbeit kochen sie gemeinsam, trinken Bier und vertiefen sich in ein Ego-Shooter-Videospiel. Am selben Tag, an dem Vanessa befördert wird, erfährt Edin von seiner Kündigung. Arbeitslos fühlt sich die Zeit für ihn anders an: „Alle Wochentage sind als Sonntage verkleidet.“ Der Rücken, vom Schleppen kaputt, schmerzt, und die verdrängten Erlebnisse seiner Familie aus den Jugoslawien-Kriegen machen sich bemerkbar. Würde nicht gelegentlich jemand in Schilling zahlen oder eine CD-ROM einlegen, könnte man schnell vergessen, dass die Handlung in den 1990er-Jahren angesiedelt ist. Edin entfremdet sich und arbeitet an einer seltsamen Maschine, die erst nach und nach Form annimmt.

Dicht bleibt Iris Blauensteiner am Geschehen. Jedes Geräusch und jede Bewegung, das Scheppern der Container, das Zirpen des Modems, das Krampfen der Atmung, werden wie durch ein Makroobjektiv beschrieben. Dieses literarische Klangerlebnis wird mit einem Soundtrack von Rojin Sharafi, der über QR-Code abgerufen werden kann, noch verstärkt.

Wir, die Überlebenden - Tash Aw

Der malayischstämmige Autor Tash Aw ist mit seinem Debüt „Die Seidenmanufaktur zur schönen Harmonie“ international bekannt geworden. In seinem dritten Roman „Wir, die Überlebenden“ folgen wir dem Aufstieg und Fall von Ah Hock, einem Mann aus armen Verhältnissen ohne Bildung. Er schildert einer Soziologiestudentin sein Leben, das sie für ihre Doktorarbeit verwerten will: Dem Fischerdorf entkommen, geht Ah Hock nach Kuala Lumpur und jobbt sich durch, bis ihm ein Geschäftsmann Arbeit in seiner Fischfarm anbietet. Dort steigt er zum Manager auf, ­heiratet und ist plötzlich in der Mittelklasse angekommen. Als eine Cholerawelle die indonesischen Arbeiter in der Fischfarm trifft, sieht er seine Existenz bedroht.

Er lässt sich mit einem früheren zwielichtigen Freund auf einen gefährlichen Deal ein, um illegale, billige Arbeitskräfte über die Grenze zu holen, und begeht einen Fehler, den er für immer bereuen wird. Tash Aw lenkt den Blick hinter die Fassade der Konsumgesellschaft, wo rund um die Uhr geschuftet wird und ein Menschenleben wenig wert ist.

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