Analyse

"Russen derzeit nicht in größerem Ausmaß offensivfähig"

November 12, 2022, Myroliubivka, Kherson, Ukraine: A man checks the turret of russian destroyed tank in the ourskirts o
November 12, 2022, Myroliubivka, Kherson, Ukraine: A man checks the turret of russian destroyed tank in the ourskirts oIMAGO/ZUMA Wire
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Das russische Heer ist weitgehend zur Defensive übergegangen, mobilisiert aber weitere Reserven und könnte Anfang 2023 neue Offensiven starten, meint Oberst Berthold Sandtner, Stratege des Bundesheers.

Am Frontverlauf in der Ukraine hat sich seit der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive bei Charkiw im Osten Anfang September sowie der jüngsten Rückeroberung des Trans-Dnipro-Brückenkopfes bei Cherson im Süden kaum etwas geändert. Russland habe vor allem Verteidigungsvorbereitungen an der gesamten Front durchgeführt, sagte Bundesheer-Oberst Berthold Sandtner, Forscher am Institut für Höhere Militärische Führung an der Landesverteidigungsakademie in Wien, am Donnerstag im Gespräch mit der APA.

Derzeit seien die russischen Streitkräfte nicht mehr im größeren Maße offensivfähig. Das Schwergewicht liege auch ganz eindeutig auf der Stabilisierung der Front. Hierzu wurden laut Sandtner bereits etwa 100.000 der rund 300.000 seit September einberufenen Reservisten eingesetzt. Mit ihnen sei es immerhin gelungen, die Front weitgehend zu stabilisieren - „auch wenn ihr Kampfwert nicht sonderlich hoch eingeschätzt wird, weil sie von der Einberufung recht unmittelbar in den Kampf geschickt wurden", so Sandtner.

Abhängig von der Witterung könnte es aber Anfang des nächsten Jahres zu neuen russischen Offensiven kommen. Dazu werden derzeit in Russland die übrigen 200.000 im Rahmen der Teilmobilmachung einberufenen Soldaten formiert, ausgebildet und ausgerüstet. Obwohl die Teilmobilmachung offiziell abgeschlossen ist, sei davon auszugehen, dass sie im Stillen fortgesetzt wird und die Zahl durchaus noch auf eine halbe Million Reservisten steigen wird.

Ende November, Anfang Dezember dürfte jedenfalls die Ausbildung der genannten 200.000 Mann abgeschlossen sein. Die Russen könnten dann im Jänner, wenn die Böden gefroren sind und man sich besser im Gelände bewegen kann, angreifen. „Derzeit ist die schlechteste Jahreszeit. Es regnet, es ist nass und matschig."

Ukrainer zahlenmäßig stärker

Inklusive der 200.000 neuen Soldaten würden die Russen in der Ukraine etwa gleich stark sein wie die dortigen Verteidiger, die tatsächlich seit langem aus einer Position der zahlenmäßigen Überlegenheit heraus handel können. Die Ukraine habe nach mehreren Mobilmachungen etwa 400.000 bis 500.000 Soldaten aktiv. Für Oberst Sandtner ist es vorstellbar, dass die Russen nun versuchen, „in einem gewissen Bereich die Initiative zu ergreifen". Etwa im Donbass, denn die strategische Vorgabe war von Beginn an, diese Ostregion (im Kern die ukrainischen Oblaste Luhansk und Donezk) zu „befreien". Während Luhansk Ende Juli komplett erobert wurde, „beißen sich die Russen in Donezk die Zähne aus". In Luhansk gelangen den Ukrainern zuletzt allerdings sehr kleinräumige Gelände-Rückgewinne.

ISW

Die Ukrainer könnten auf operativer Ebene versuchen, Kräfte im Süden umzugruppieren und von Norden bzw. östlich des Dnipro über Saporischschja mit Stoßrichtung Asowsches Meer die Landbrücke zwischen Donbass und der von Russland 2014 annektierten Krim zu durchbrechen. „Das wäre der Zusammenbruch der russischen Front in diesem Bereich und würde auch zur Isolierung der Krim auf dem Landweg führen. Der einzige Land-Zugang dorthin wäre dann nur noch die Brücke in der Straße von Kertsch, die aber am 7. Oktober schwer beschädigt wurde."

Derzeit beobachte man auch, dass ukrainische Spezialeinheiten im Raum Cherson immer wieder den Dnipro queren. Auf dessen wenig besiedeltem Ostufer, das auch topografisch schwierig ist (Wasserläufe, Seen, Sümpfe) haben die Russen allerdings eine Defensivlinie errichtet.

Interessante Angriffspause

Hinsichtlich möglicher Verhandlungen ist laut Sandtner neben entsprechenden Andeutungen die Beobachtung interessant, dass die Russen seit 15. November wieder massiv die ukrainische Infrastruktur mit Fernwaffen beschießen. Diese Bombardements, vor allem durch Marschflugkörper und Drohnen, hatten am 10. Oktober begonnen. Zwischen 3. und 14. November pausierten diese strategischen Bombardements aber weitgehend. In dieser Zeit fand der Rückzug der Russen aus dem Cherson-Brückenkopf statt. Die Tatsache, dass sie dabei von den Ukrainern kaum angegriffen wurden, könne entweder als Meisterleistung der Verschleierung des Abzuges gedeutet werden (es gibt in der Tat Berichte, viele Soldaten seien in Zivilkleidung und gemeinsam mit Zivilisten aus Cherson über den Dnipro weggebracht worden) oder auch als Indiz, dass möglicherweise im Hintergrund Gespräche - etwa zwischen den USA und Russland - stattfanden.

Dass am 15. November die landesweiten Bombardements wieder anfingen, sei darauf zurückzuführen, dass Russland mit den strategischen Entwicklungen, vor allem hinsichtlich der Verhandlungsbereitschaft der Ukraine und der Verurteilung des Krieges beim G20-Gipfel in Indonesien, unzufrieden sei. Dazu komme die Rhetorik des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski, der erneut seine Maximalforderungen bekräftigte, primär den kompletten Rückzug des russischen Heeres aus der Ukraine. „Ein so umfassender Schlag mit an die 100 Marschflugkörpern so wie am 15. November bedarf gründlicher Vorbereitung", sagt Sandtner. Es sei daher anzunehmen, dass der Termin bewusst gewählt wurde, da bekannt war, dass Selenski an dem Tag eine Videobotschaft beim G20-Gipfel halten werde.

Ein baldiges Ende des Krieges sei jedenfalls nicht in Sicht, auch wenn er rein militärisch aus heutiger Sicht für keine Seite zu gewinnen sei, so Sandtner. Der bald neun Monate währende Krieg hat nach Einschätzung der Experten sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite jeweils um die 100.000 gefallene, verwundete und vermisste Soldaten und bis zu 40.000 tote und verletzte ukrainische Zivilisten gefordert. In Summe seien wohl schon mehr als 100.000 Menschen gestorben.

Instituts für höhere Militärische Führung

Ukrainische Flugabwehr wird immer besser

Dass die Ukraine nicht im Stande ist, die russischen Luftangriffe ganz zu unterbinden, hat laut Oberst Sandtner mehrere Gründe: „Die Ukraine ist ein sehr großes Land, es ist nahezu unmöglich, dieses flächendeckend zu schützen." Zudem seien die dazu nötigen Waffen sehr teuer. Während die iranischen Drohen, mit denen Russland derzeit agiert, für um die 20.000 Euro zu haben sind, koste etwa eine deutsche Iris-T SLS/SLM Flugabwehrrakete etwa 400.000 Euro.

Überdies sind Flugabwehrwaffen, so wie jede Waffe, natürlich selten von 100prozentiger Erfolgsgarantie. Videos zeigen aber, dass die Fähigkeit der ukrainischen Flugabwehr stetig wächst und es inzwischen vermutlich gelingt, bis zu zwei Drittel angreifender Flugkörper abzufangen. Demgegenüber steht die stetig zunehmende Kooperation der Russen mit dem Iran, von wo aus nicht nur Drohnen geliefert werden, sondern davon auszugehen ist, dass in nächster Zeit auch höher entwickelte Marschflugkörper iranischer Bauart ihren Weg nach Russland finden.

FILE PHOTO: Russian drone strike in Kyiv
FILE PHOTO: Russian drone strike in KyivREUTERS

(APA/wg)

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