Militärexperte Gustav Gressel erklärt vor dem ersten Jahrestag von Putins Invasion, warum die Russen nun monatelang in der Offensive sein könnten, aber die Ukraine „mehr Potenzial“ hat. Die verbreiteten Vorstellungen über einen Atomwaffeneinsatz hält Gressel für „hoch naiv“ – und Österreich für ein „Sicherheitsrisiko“.
Herr Gressel, der Krieg nähert sich seinem ersten Jahrestag. Niemand hat eine Glaskugel, aber welches Szenario halten Sie im zweiten Kriegsjahr für wahrscheinlich?
Gustav Gressel: In der ersten Jahreshälfte wird Russland seine Offensiven mit mobilisierten Kräften verstärken. Sie werden im Osten weiter angreifen, aber nicht aus dem Norden in Richtung Kiew. Ziemlich sicher wird es am Ende auch russische Geländegewinne geben, aber keine großen, falls die Ukraine keine schweren Fehler macht. Im Sommer dürfte sich dann die russische Offensivkraft erschöpft haben, vielleicht vor Kramatorsk und Slowjansk (Anm.: ca. 35 Kilometer nordwestlich der derzeit umkämpften Stadt Bachmut).
Und dann?
In der zweiten Jahreshälfte könnten sich Lücken für Gegenoffensiven bilden. In der Ukraine wird dann auch die Masse der zugesagten Panzer aus dem Westen eintreffen. Die Russen bereiten zurzeit aber in der Tiefe Hindernisse vor. Ich fürchte daher, diese Gegenoffensiven werden zunächst nur kleinräumig stattfinden. Wir könnten einen langsamen und steten Rückzug einer geschwächten russischen Armee sehen. Mit einer Entscheidung rechne ich 2023 nicht. Nach dem Jahreswechsel könnte dann die russische Position in der Ukraine jenseits der Krim insgesamt in Gefahr geraten.