Gastbeitrag

Rechtsstaatlichkeitsdefizit im Innenministerium

(c) Peter Kufner
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Seit bald acht Jahren gibt es permanente Kontrollen an Österreichs Grenzen. Das steht in eklatantem Widerspruch zu EU-Recht.

Die Autoren

Wolfgang Benedek (*1951) ist Universitätsprofessor in Ruhe am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Graz.

Stefan Salomon (*1984) ist Assistenzprofessor für Europarecht an der Universität Amsterdam.

Innenminister Gerhard Karner kündigte an, dass die Kontrollen an den Grenzen zu Slowenien und Ungarn um weitere sechs Monate – bis November 2023 – verlängert werden. Damit wird seit acht Jahren ununterbrochen an Österreichs Grenzen kontrolliert werden. Die quasi-permanenten Grenzkontrollen stehen in eklatantem Widerspruch zu EU-Recht, das nur eine vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen erlaubt. Doch welche Anforderungen stellt das EU-Recht genau? Welche rechtlichen und politischen Konsequenzen ergeben sich daraus? Und wie könnten Betroffene dagegen vorgehen?

Das EU-Recht stellt strenge Anforderungen an die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Der Schengener Grenzkodex erlaubt Binnengrenzkontrollen grundsätzlich nur für maximal sechs Monate. Zudem muss nachgewiesen werden, dass tatsächlich eine ernsthafte Bedrohung der inneren Sicherheit besteht und Grenzkontrollen das letzte Mittel sind, um dieser Bedrohung wirksam zu begegnen.

Bereits im April 2022 stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil zu den Binnengrenzkontrollen von Österreich fest, dass die Höchstfrist von sechs Monaten keine Ausnahmen zulässt. Nur bei einer neuen Bedrohung darf ein Mitgliedstaat Grenzkontrollen für wiederum maximal sechs Monate einführen. Die Uhr beginnt dann wieder von vorn zu laufen. Eine neue Bedrohung liegt vor, wenn sich diese „ihrem Wesen nach“ von der vorherigen Bedrohung unterscheidet. Sprich: Ein Terroranschlag ist keine Pandemie, eine Pandemie ist kein politisches Gipfeltreffen.

Bereits der EuGH ließ wenig Zweifel daran, dass Österreich eine neue Bedrohung nicht nachgewiesen hatte. Im Juli 2022 urteilte das Landesverwaltungsgericht Steiermark, das die Rechtssache dem EuGH vorgelegt hatte, dass „die Republik Österreich seit dem 10. November 2017 nicht nachgewiesen hat, dass eine neue Bedrohung vorliegt“. Die Grenzkontrollen waren demnach seit diesem Zeitpunkt rechtswidrig.

Was sind die Gründe für die Grenzkontrollen? Aufschluss darüber geben die Notifikationen zur vorübergehenden Wiedereinführung der Binnengrenzkontrollen, die das Innenministerium seit 2015 vor jeder Verlängerung der Kontrollen an die Europäische Kommission geschickt hat. Sie zeigen ein eindeutiges Muster: Zu hohe Asylantragszahlen und die Sekundärmigration von Asylsuchenden nach Österreich sind die wesentlichen Gründe für die Grenzkontrollen.

Auch für die erneute Verlängerung der Kontrollen gegenüber Slowenien und Ungarn von Mai bis November führt das Innenministerium den hohen Migrationsdruck aus Slowenien und Italien an, somit wiederum keine neuen Gründe. Tatsächlich sind die Asylantragszahlen seit November 2022 rückläufig. Bereits zwischen 2016 und 2020 begründete das Innenministerium die Notwendigkeit von Grenzkontrollen mit weiterhin hohen Asylantragszahlen und irregulärer Sekundärmigration, obwohl die Antragszahlen kontinuierlich sanken (von 42.000 auf 14.000). Die Binnengrenze zu Italien wurde zudem, anders als von Innenminister Karner dargestellt, von der erneuten Verlängerung ausgenommen, was zeigt, dass eine offene Grenze möglich ist.

Da die Gründe für die sukzessiven Verlängerungen im Wesentlichen gleich geblieben sind, sind die Kontrollen rechtswidrig. Das Innenministerium betont, „perspektivisch zu einem Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen zurückkehren“ zu wollen und fügt an: „Wann dies möglich sein wird, bleibt der Entwicklung der Gesamtlage vorbehalten.“ Dies zeigt das grundlegende Problem: Klare Rechtsnormen werden durch eine willkürliche Beurteilung der Gesamtlage ersetzt.

Es mutet geradezu ironisch an, wenn dabei rechtsmissbräuchliches Handeln – der Erlass einer rechtswidrigen Verordnung zur Verlängerung von Grenzkontrollen – vom Innenminister mit der „Verhinderung von Asylmissbrauch“ begründet wird.

Kosten der Grenzkontrollen

Die wirtschaftlichen Kosten der Grenzkontrollen sind beträchtlich. Die direkten Mehrkosten für die Grenzkontrollen im Jahr 2021 betrugen mehr als 88 Millionen Euro und führen zu wesentlichen Verzögerungen im grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr. Dies verursacht indirekte Mehrkosten, vor allem für Transportunternehmen und Berufspendler. Allein in Österreich dürften sich die Mehrkosten für die etwa 55.000 Berufspendler aus Ungarn und Slowenien auf knapp 50 Millionen Euro jährlich belaufen.

Die weitreichenderen Folgen sind jedoch politischer und rechtsstaatlicher Natur. Der Raum ohne Binnengrenzen stellt eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration der vergangenen 40 Jahre dar. Mit dieser Errungenschaft darf nicht leichtfertig umgegangen werden – schon gar nicht aus innenpolitischem Kalkül. Die Missachtung des Urteils des EuGH wirft zudem grundlegende rechtsstaatliche Bedenken auf. Wenn Mitgliedstaaten in Kernbereichen des EU-Rechts die Rechtsprechung des EuGH beharrlich missachten, steht es schlecht um die europäische Rechtsstaatlichkeit.

Rechtliche Konsequenzen?

Eigentlich ist es die Aufgabe der Europäischen Kommission, die Umsetzung des EuGH-Urteils im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Österreich durchzusetzen. Die Kommission schweigt jedoch – seit Jahren. Offenbar fürchtet die Kommission bei einer rechtlichen Auseinandersetzung über die Grenzkontrollen, vor allem mit den großen Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland, die ebenfalls seit 2015 Grenzkontrollen durchführen, sich politisch die Finger zu verbrennen.

Da die Kommission untätig ist, bleibt nur mehr die Rechtsdurchsetzung durch die Bürger. Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Neben verwaltungsgerichtlichen Klagen gegen Kontrollmaßnahmen wie im Fall des EuGH-Urteils von 2022 könnte eine effektive Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung die Staatshaftung im EU-Recht sein. Die unionsrechtliche Staatshaftung ist die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats für einen Schaden, der auf einer Verletzung von EU-Recht beruht.

Dies könnte insbesondere im grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr von praktischer Bedeutung sein, vor allem, wenn Verzögerungen durch unionsrechtswidrige Grenzkontrollen zu finanziellen Schäden führen. Die unionsrechtliche Staatshaftung wurde vom EuGH auch als Stärkung des Schutzes subjektiver Rechte entwickelt. Mitgliedstaaten sollten nicht ungestraft die subjektiven Rechte von Individuen im EU-Recht missachten können, sondern für ihr rechtswidriges Handeln haften. In dieser Hinsicht kommt der Staatshaftung im EU-Recht auch eine wichtige rechtsstaatliche Funktion zu. Ein Gesinnungswandel im Innenministerium hin zur Rechtsstaatlichkeit mag schlussendlich über die Geldbörse gehen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2023)

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