Proteinregulationen: Neue Nerven wachsen langsam

Neue Nerven wachsen langsam
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Verletzungen des Rückenmarks sind bisher nicht heilbar. Aber Nerven in Armen und Beinen können nach einem Unfall wieder wachsen: Das liegt auch an Proteinregulationen, die bestimmen, wann ein Nerv wo wachsen soll.

Jede Nervenzelle, die Sie bei einem Rausch verlieren, ist für immer weg. Im Erwachsenenalter können sich Neurone nicht mehr vermehren.“ Diesen Satz hörte man an der Uni noch vor 15 Jahren – vom Neurobiologieprofessor warnend ausgesprochen. Damals galt das Dogma: Nervenzellen können sich nicht neu bilden. Doch vor zehn Jahren entdeckten Forscher, dass es im Gehirn kleine Regionen gibt, in denen Stammzellen für Nachschub an Gehirnzellen sorgen.

So wurden etwa bei Menschen nach einem Schlaganfall Nervenzellen in der betroffenen Hirnregion gefunden, deren molekulare Ausstattung jener von „frisch geborenen“ Neuronen glich. Das Gehirn ist Teil des „zentralen Nervensystems“ – gemeinsam mit dem Rückenmark. In diesen komplexen Verschaltungszentralen wird ab dem Erwachsenenalter nicht nur die Neubildung von Nervenzellen schwierig, auch die Regeneration von verletzten Neuronen verläuft entweder extrem langsam oder überhaupt nicht. Bekanntestes Beispiel der fehlenden Regeneration sind Querschnittslähmungen nach Rückenmarksverletzungen: Warum heilen Nerven im Rückenmark nicht, während bei einem Schnitt in den Arm nicht nur durchtrennte Haut- und Muskel-, sondern auch die Nervenzellen nachwachsen können?

„Man muss zwischen peripherem Nervensystem und dem zentralen Nervensystem dramatisch unterscheiden“, sagt Robert Schmidhammer vom Ludwig-Boltzmann-Institut für experimentelle und klinische Traumatologie in Wien. Zwar gilt im peripheren Nervensystem, dessen Geflecht unseren Körper durchzieht, das Dogma noch, dass sich hier keine neuen Zellen bilden können. (Es wackelt vielleicht ein bisschen: Erste, unsichere Hinweise, dass es hier so etwas wie Stammzellen geben könnte, kommen aus Italien.)


Regeneration in der Peripherie. Dafür funktioniert im peripheren Nervensystem die Regeneration von verletzten Nervenfasern besser. Im Zentralnervensystem, in dem viele Nervenzellen nebeneinanderliegen und durch mehrere Milliarden an Verschaltungen (Synapsen) verbunden sind, herrscht eine strenge Regulierung der Wachstumsfaktoren. „Wenn hier zu viele Nervenfasern gebildet werden und es zu falschen Verschaltungen kommt, kann das zu schweren Erkrankungen führen“, sagt Barbara Hausott von der MedUni Innsbruck. Vor allem in der Entwicklung, in der viele Nervenverbindungen sprießen und wachsen, gibt es eine äußerst starke Kontrolle, die übermäßiges Wachstum bremst. Diese „Bremser“-Proteine sind auch später noch aktiv und verhindern Zellwachstum in Gehirn und Rückenmark.

Zudem kapselt das zentrale Nervensystem jede verletzte Stelle schnell ab, damit der Schaden begrenzt bleibt: Es bilden sich Glia-Narben – auch ein Grund, warum Rückenmarksverletzungen kaum heilbar sind. Einen Lichtblick versprachen jüngstens Forscher des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie bei München: Sie fanden heraus, dass die Chemotherapiesubstanz Taxol nicht nur gegen Krebs, sondern auch bei Rückenmarksverletzungen hilft. Das Medikament ordnet das innere Gerüst der Nervenzellen so, dass durchtrennte Fasern wieder wachsen können. Ende Jänner berichtete das Team von Ratten, die nach einer Querschnittslähmung wieder laufen lernten.

Anders läuft es im peripheren Nervensystem, bei dem die Zellkörper der Nervenzellen in Rückenmarksnähe liegen und ihre Ausläufer (Axone) Informationen in die verschiedenen Gewebe transportieren.

Wird hier etwas durchtrennt, verkümmert zwar der Teil des Axons, der fern vom Zellkörper liegt, aber im rückenmarksnahen Nerventeil werden Vorgänge gestartet, die ein Wachstum wieder möglich machen: „Beim Menschen schaffen Axone eine Wachstumsgeschwindigkeit von etwa einem Millimeter pro Tag. Bei Ratten geht es drei- bis viermal so schnell. So vergehen bei Menschen z.B. drei Monate, bis die Nervenfasern vom Unterarm bis in die Fingerspitzen nachgewachsen sind“, erklärt Schmidhammer, der in der Klinik täglich mit der Versorgung von Unfallopfern zu tun hat: „Es wird ja nicht nur der Nerv, sondern das ganze System verletzt: Wenn ein Nerv durchtrennt ist, wird der von ihm innervierte Muskel schwinden. Im Gehirn können sich die funktionellen Einheiten für den Körperteil verändern. Darum müssen wir das System verstehen und es als Ganzes behandeln.“

So stellen sich die Chirurgen eine Menge an Fragen, bevor der Eingriff erfolgt: Welche Verletzung liegt in welchem Bereich vor? Ist der Nerv durchtrennt? Kann man das chirurgisch oder mikrochirurgisch überbrücken? Kann man den Nerv spannungsfrei nähen? Wie kann man mit wachstumsfördernden Substanzen eingreifen, um die Regeneration zu verbessern?

Da der abgetrennte Nerventeil abstirbt, darf man sich ein Zusammennähen hier nicht wie das Löten oder Verbinden von kaputten Kabeln vorstellen: Der alte, nunmehr unversorgte Nervenstrang dient der übrig gebliebenen, nun nachwachsenden Nervenfaser nur als Richtungsgeber – so findet das nachwachsende Axon seine richtige Bestimmungsstelle.

Kleine Lücken zwischen den durchtrennten Nerventeilen können auch durch bioresorbierbare Röhrchen, größere Defekte durch Nerventransplantate überbrückt werden. Klappt es mit der Richtungsgebung nicht, wachsen die verletzten Axone in verschiedenste Richtungen aus und bilden kleine schmerzhafte Knäuel (Neurome).

„Daher suchen Forscher nach Substanzen, die das Wachstum von Axonen fördern, ohne dass sich starke Verzweigungen an der Läsionsstelle bilden“, erklärt Hausott: „Unser Team hat Proteine untersucht, die genau das regulieren.“ Es handelt sich um sogenannte „Sprouty-Proteine“: Sie gehören quasi zu den „Bremser“-Proteinen, die auch im zentralen Nervensystem in der Entwicklung verhindern, dass zu viele Axone sprießen.

Das Innsbrucker Team konnte nun erstmals zeigen, dass Sprouty-Proteine im peripheren Nervensystem maßgeblich am Bremsen des Axonswachstums beteiligt sind. „Wir konnten über siRNA, eine gängige Methode zur Proteinregulation, Sprouty-Proteine in der Nervenzelle vermindern: Daraufhin wuchsen die verletzten Axone – in Zellkultur im Labor – doppelt so schnell wie die Kontrollzellen.“ Ein großer Erfolg, brachten doch bisherige Substanzen höchstens eine Steigerung der Wachstumsgeschwindigkeit um etwa zehn Prozent.

„Wie tauglich diese Methode als Therapie ist, muss weiter untersucht werden.“ Vielversprechend ist jedenfalls, dass sich das Axonwachstum durch die Kombination mit Faktoren, die in der Klinik bereits eingesetzt werden, noch weiter steigern ließ. „Die Auswahl an Wachstumsfaktoren, die Chirurgen einsetzen können, ist groß. Viele Substanzen entdeckte man z.B. als Nebenwirkungen von anderen Medikamenten“, erklärt Schmidhammer. „Aber bisher gibt es noch kein Mittel, das verspricht: Alles wird gut.“ Denn jeder Faktor ist in seiner Wirkung abhängig von dem Zeitpunkt und der Dosis, in der er verabreicht wird. Die Suche nach einem „Schlüsselfaktor“ zur leicht handhabbaren Regulierung des Nervenwachstums läuft also weiter.

Das Zentralnervensystem (ZNS)umfasst das Gehirn und das Rückenmark, das als langer Strang in der Wirbelsäule verläuft. Im Gehirn gibt es kleine Regionen, die neue Nervenzellen bilden können. Verletzte Rückenmarkszellen können aber nicht nachwachsen.

Das periphere Nervensystem (PNS)durchzieht den restlichen Körper: Die Zellkörper der Nervenzellen liegen in oder nahe an dem Rückenmark. Ihre Ausläufer (Axone) bringen die Informationen zu den Muskeln und anderen Geweben. Wird ein peripherer Nervenstrang durchtrennt, verkümmert der rückenmarksferne Teil. Das restliche Axon kann nachwachsen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2011)

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