Von Schluss und Strich

Kaum hatten die ersten Internet- portale von Jakob Rosenbergs und Georg Spitalers Buch „Grün-Weiß unterm Hakenkreuz“ berichtet, gingen die Wogen in den Foren hoch. Wie das Damals im Heute klingt: Anmerkungen am Beispiel der NS-Geschichte des Sportklubs Rapid.

Nach keiner Aufforderung zum Schweigen wird mehr geredet, gestritten, diskutiert und geschwätzt als nach der einen, die besagt, einmal müsse doch Schluss sein. Der Punkt, der gesetzt werden soll, verwandelt sich noch im selben Atemzug zum Doppelpunkt, zu jenem Satzzeichen, das Adorno als aufgesperrten Mund bezeichnete: Und was aus den Mündern kommt, widerlegt ein ums andere Mal, was der Punkt nach dem Wort Schlussstrich beendet haben wollte. Nie wird hierzulande aufgeregter in die Tastaturen gegriffen, um im potenziell weltweiten Netz zu kommentieren, als bei jenen Berichten, die sich um Nationalsozialismus, Shoah, Enteignung, Vertreibung und Ermordung der Jüdinnen und Juden, um Feigheit oder Tapferkeit vor dem Feind der Menschheit drehen. Man sitzt in Büros oder zu Hause, schreibt am Computer oder übers Mobiltelefon und engagiert sich leidenschaftlich in einer Debatte, die endlich vorüber sein sollte, weil sie niemanden mehr interessierte. Und jeder Einzelne, der schreibt, wie sehr ihn all das langweile, wie wenig ihn angehe, was vor 70 Jahren geschehen sei, gibt beredtes Zeugnis davon, wie heiß die Fragen sind, die so viele angeblich kalt lassen.

Kaum hatten die ersten Internetportale österreichischer Medien von Jakob Rosenbergs und Georg Spitalers Buch „Grün-Weiß unterm Hakenkreuz“ berichtet, gingen die Wogen in den Foren über. Es ist müßig, die Standpunkte wiederzugeben, sie sind hinlänglich bekannt. Nun aber hat erstmals ein österreichischer Fußballverein in Zusammenarbeit mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands eine Studie über seine Rolle während der nationalsozialistischen Herrschaft in Auftrag gegeben. Dabei handelt es sich freilich nicht einfach um einen Klub, sondern um jenen, den viele seiner Anhänger Religion nennen: etwas Rückbindendes, etwas Halt Gebendes, etwas, was über die Zeitläufte hinweg stabil zu bleiben vorgibt.

Man kennt die Bilder von der Hütteldorfer Westtribüne, in denen bisweilen doppelt codierte Fahnen mit der 88, dem Gründungsjahr der Ultras und der neonazistischen Chiffre für den Hitlergruß, neben der stolzen Bekundung wehen, großdeutscher Meister gewesen zu sein. Andererseits trifft man junge, an den Universitäten sozialisierte Linke, die vom Fußball keine Ahnung haben, sich aber als Anhänger Austria Wiens deklarieren, weil die Austria ein jüdischer Verein sei. Der Stolz auf den großdeutschen Titel, als wäre damit eine Gesinnung bewiesen, und die Parteinahme für einen Verein, der als jüdisch galt, es aber – anders als die Hakoah – nie war, sind zwei Seiten einer Medaille. Man könnte lachen oder den Kopf schütteln, wäre die Frage tatsächlich eine kalte.

Am 22. Juni 1941 besiegte der Sportklub Rapid im Berliner Olympiastadion Schalke 04 aus Gelsenkirchen im Finale um die deutsche Meisterschaft mit 4:3, nachdem die Hütteldorfer 0:3 zurückgelegen waren. Die Mythen, die sich um dieses Endspiel ranken, sind Legion: Deutsche unterstellten, Rapids Sieg sei bestellt gewesen, weil der Führer einen Meister aus seiner Ostmark gewollt habe; Österreicher strichen die Überlegenheit des Wiener Fußballs hervor; der Sieg der Grün-Weißen wurde zum Widerstand gegen deutsche Großmachtgelüste umgedeutet, was wiederum erklären helfen sollte, warum kurz nach dem Gewinn der Meisterschaft so viele Rapidspieler an die Front geschickt wurden.

Rosenberg und Spitaler zeigen, dass es keinen Hinweis auf eine Schiebung des Spiels in welche Richtung immer gebe. Sie dröseln die Opposition zwischen dem österreichischen und deutschen Fußball jener Zeit anhand von Korrespondenzen und Medienberichten auf, sie halten fest, welche Spieler wann zur Wehrmacht eingezogen und wann an die Front verschickt wurden – und auch hier findet sich kein großer Unterschied zwischen Rapid und Schalke, wohl aber zwischen Rapid und Schalke und anderen Vereinen, will heißen: zu Vereinen, die nicht als bodenständig, sondern als jüdisch bezeichnet wurden.

Während Rapid als der proletarische Vorstadtklub schlechthin gilt, wurde die bürgerliche Austria mit der Stadt, dem Kaffeehaus, dem Intellekt, dem Gewinnstreben und den Juden verbunden. Dieser Opposition entsprachen zwei Begriffe, um die ein heftiger Kampf tobte, jener zwischen Amateurismus und Professionalismus. Amateurdasein hieß, einer Lohnarbeit nachzugehen, sein Geld ehrlich zu verdienen, Fußball aus Leidenschaft zu spielen, seinem kulturellen Umfeld treu zu bleiben, während dem Professionalismus Wurzellosigkeit, Menschenhandel und Spiel um des Erfolgs willen vorgehalten wurden. Antimodernismus und Antikapitalismus treffen aufeinander, der Riss in der Welt wird am Juden festgemacht, als wäre Kapitalismus ein ethnisches Prinzip.

Es ist kein kleines Verdienst der gleich kenntnisreichen wie aufschlussreichen Studie, auch an diesem Punkt nüchterne Tatsachen vorzulegen: Der Amateurismus des österreichischen Fußballs, vor allem jener Rapids, war ein Scheinamateurismus, gerade nach dem „Anschluss“, mit dem das Profitum abgeschafft wurde. Spieler wurden scheinbeschäftigt, um auf dem Arbeitsplatz für Medien abgelichtet zu werden, während sie die meiste Zeit auf dem Fußballplatz verbringen konnten. Im gesellschaftlichen Phantasma firmiert der Fußballprofi als eine Art Künstler, jemand, der zum Beruf gemacht hat, was ihm Spaß bereitet, dessen Einkünfte in keinem Verhältnis zu seiner Arbeitszeit stehen und dem eine gewisse Narrenfreiheit eingeräumt wird: ein Ärgernis den Disziplinfanatikern und Polizeigehirnen, die sich reinen Sport und reine Kunst herbeihalluzinieren, als wären nicht Markt und Warentausch deren Fundament. Mit dem „Anschluss“ – im Unterschied zu Rapid war der gesamte Vorstand der Austria seines Amtes enthoben und der Verein kurzfristig in SC Ostmark umbenannt worden, bereits im Oktober 1939 waren 17 Spieler zur Wehrmacht eingezogen – mussten die Fußballvereine ein Einheitsstatut übernehmen, sogenannte Dietwarte einstellen, die sich um die ideologische Schulung der Funktionäre und Spieler kümmern sollten, während prominente Nationalsozialisten in Vorstände geholt wurden, um als Bindeglieder zwischen Verein und Partei zu vermitteln.

Spitaler und Rosenberg gelingt ein auch
in seiner zweifelhaften Normalität bedrückendes Panorama des Hütteldorfer Fußballs zwischen 1938 und 1945: von den großen Erfolgen, dem Gewinn des nach dem Reichssportführer benannten Tschammer-Pokals und dem Berliner Meistertitel, über die Tore des berühmten Bimbo Binder, Feldpostkarten der Stars mit Heil-Hitler-Grüßen, antideutsche Ausschreitungen auf Wiener Fußballplätzen, die Anlass zur verschärften Verfolgung sogenannter Asozialer gaben, bis zu den gespenstischen Spielen der letzten Kriegsjahre, als immer andere, noch nicht an die Front geschickte Spieler Grün-Weiß beinahe absteigen ließen.

Opfer, Täter, Mitläufer über Mitläufer, die nach der Befreiung alles nur getan haben wollten, um ihren Verein zu schützen: Das könnte man als Ergebnis der akribischen Kartei- und Archivauswertungen festhalten. Wir lesen vom ehemaligen Stürmer Fritz Dünmann, der in Auschwitz ermordet wurde, von 50 Prozent NSDAP-Mitgliedern auf Funktionärsebene und keinem einzigen Parteimitglied unter den Spielern, aber auch vom Verteidiger Fritz Durlach, der nach dem Krieg auf dem Rapidplatz verhaftet und dem ein Folterprozess am Volksgerichtshof gemacht wurde, weil er der Wehrkraftzersetzung Verdächtigte gepeinigt hatte. Ernst Stojaspal, Spieler der SG Reichsbahn (Ostbahn XI), späterer Austrianer, ließ sich von seinem Kollegen Karl Lauterbach die Hand brechen, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Stojaspal wurde zu acht Jahren Haft verurteilt, Lauterbach im Februar 1945 in Kagran erschossen, während sich Bimbo Binder einen gesunden Blinddarm entfernen ließ – eine Praxis, die man bei Rapid öfter gepflegt haben dürfte, um nicht an die Front zu müssen.

Natürlich diente Sport im Nationalsozialismus der Ablenkung, natürlich sollten die besten Sportler auch die besten Soldaten sein, natürlich wurden die Fußballer zu Ikonen deutscher Tüchtigkeit und Pflichterfüllung stilisiert. Aber je grausamer der Krieg wurde, desto augenfälliger veränderte sich nicht nur das Publikum in den Stadien und auf den Rängen, auf einmal traten Soldatenmannschaften gegeneinander an, und an den Fronten oder in den Städten wurden Spiele abgebrochen, sobald Sirenen Luftangriffe ankündigten.

Das schrecklichste Spiel jedoch hat Primo Levi überliefert. Levi berichtet von einem Fußballspiel in Auschwitz, wo das Sonderkommando, jene Juden, denen der Betrieb der Gaskammern und Krematorien befohlen war, gegen eine SS-Mannschaft anzutreten hatte. „Bei diesem Spiel sind auch noch andere SS-Angehörige und das ganze übrige Sonderkommando anwesend, sie ergreifen Partei, schließen Wetten ab, klatschen, feuern die Spieler an – gerade so, als würde das Spiel nicht vor den Toren der Hölle, sondern auf dem Fußballplatz irgendeines Dorfes ausgetragen.“ Von diesem Spiel aus wird die Normalität aller anderen Spiele zur Kenntlichkeit entstellt.

Es ist eine grausame Pointe, dass sich der Arbeiter-Fußballklub aus Hütteldorf im Jänner 1889 auf Initiative Wilhelm Goldschmidts in Sportklub Rapid umbenannte: der in Brünn geborene Klubsekretär und Schriftführer wurde 1942 aufgrund seiner jüdischen Herkunft in Polen ermordet. Im selben Transport nach Izbica, mit dem Goldschmidt in den Tod geschickt wurde, saß eine gewisse Rosa Eibschütz, in deren von einem Rapidfunktionär arisierte Gemeindebauwohnung Bimbo Binder einzog. Auch Rosa Eibschütz wurde ermordet.

Was all das mit uns zu tun habe, wird in den Foren gegeifert, weil man genau weiß, was das mit uns zu tun hat. Zeitgenossenschaft und wache Distanz zur Gegenwart bemessen sich gerade auch im Verhältnis zur Vergangenheit, zum Archiv der Zeugen, zum Zeugnis jener, die vom Äußersten berichten, was Menschen Menschen antaten. Damit wird man nicht zum Widerstandskämpfer ex post, aber vielleicht zu einem kritischen Zeitgenossen. Das Damals schlägt noch immer im Heute. Die es am lautesten nicht hören, spüren in ihrer Einsamkeit vor dem Computer, dass sie heute Mitläufer sind. ■


Der Band „Grün-Weiß unterm Hakenkreuz“ von Jakob Rosenberg und Georg Spitaler ist im Verlag des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2011)

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