Das Enthüllungsnetzwerk von Julian Assange ist selbst zum Opfer geworden. Hunderttausende heikle US-Dokumente sind unverschlüsselt ins Internet gelangt - ein Super-Gau für Informanten.
Die Geschichte klingt so unglaubwürdig wie ein schlechter Agenten-Thriller – könnte aber verheerende Auswirkungen für hunderte Informanten des US-Außenministeriums auf der ganzen Welt haben. Offenbar durch eine Mischung aus Zufällen, persönlichen Feindschaften und Schlamperei ist ein unredigierter Datensatz mit 251.000 amerikanischen Diplomaten-Depeschen, viele davon als „geheim“ eingestuft, jetzt frei im Internet zugänglich.
Die Akten, die in bearbeiteten Auszügen schon vor Monaten von der Enthüllungsplattform Wikileaks in Zusammenarbeit mit Zeitungen wie dem „Guardian“, der „New York Times“ und dem „Spiegel“ veröffentlicht wurden, enthalten nicht nur peinliche Interna, sondern bergen nach Einschätzung von Experten auch akute Gefahren für Dissidenten in autokratischen Regimes wie etwa dem Iran. Denn anders als bei den bereits bekannten Depeschen – in denen etwa Mitarbeiter der Wiener US-Botschaft Bundeskanzler Werner Faymann attestieren, dass er keine Ahnung von und kein Interesse an Außenpolitik habe –, sind diesmal die Namen von Zuträgern nicht geschwärzt.
„Guardian“ enthüllt die Enthüller
Wikileaks schiebt die Schuld für das Datenleck dem „Guardian“ zu. Auf ihrer Website erklärt die Enthüllungsplattform: „,Guardian‘-Redakteur David Leigh hat fahrlässig, ohne unser Einverständnis und in vollem Bewusstsein das Entschlüsselungspasswort in einem Buch veröffentlicht.“ Wikileaks prüfe rechtliche Schritte gegen die Zeitung. In dem Buch beschreibt Leigh, wie er von Wikileaks-Mastermind Julian Assange das unvollständige Passwort auf einem Notizzettel zugeschoben bekam und welches Wort er noch in die Ziffernkette einfügen sollte, um den Datensatz zu entsperren.
Assange ist selbst aber offenbar auch nicht unschuldig daran, dass die verschlüsselten Daten auf mittlerweile hunderten Servern weltweit zu finden sind. Laut „Spiegel Online“ hat Assange, der seit Monaten in Großbritannien unter Hausarrest steht und gegen seine Auslieferung nach Schweden kämpft (wo er sich wegen sexueller Nötigung verantworten soll), die hochbrisanten Dateien schon vor Monaten in einem Unterverzeichnis versteckt. Als die Organisation Ende 2010 erheblich unter finanziellem Druck stand und sogar das völlige Verschwinden drohte, sollen Unterstützer Dutzende Kopien der Plattform eingerichtet haben – ohne zu wissen, dass auch der brisante Datensatz dabei war.
Doch ein ehemaliger Wikileaks-Mitarbeiter wusste wohl Bescheid: Der Deutsche Daniel Domscheid-Berg, einst engster Vertrauter und heute Erzfeind von Assange, hat inzwischen das Konkurrenzunternehmen „OpenLeaks“ gegründet und soll mit gezielten Indiskretionen dafür gesorgt haben, dass nicht nur der Datensatz gefunden wurde – sondern auch gestreut haben, wo das zugehörige Passwort zu finden ist.
„OpenLeaks“ war gestern nicht für einen Kommentar zu den Vorwürfen zu erreichen. Der „Guardian“ wies in einer Stellungnahme jede Verantwortung zurück. Das Buch mit dem Passwort sei schließlich schon vor sieben Monaten erschienen – ohne dass Wikileaks je auf ein mögliches Sicherheitsproblem hingewiesen habe.
Wikileaks-Anhänger diskutierten gestern via Twitter, wie mit dem Leck umzugehen sei – und stimmten ab, ob die Plattform selbst noch eine komplette, unredigierte Fassung veröffentlichen sollte – nachdem sie ohnehin schon im Umlauf sei.
130.000 Depeschen veröffentlicht
Schon in der vergangenen Woche, als sich die Gerüchte mehrten, dass der Datensatz geknackt werden könnte, hatte Wikileaks weitere 130.000 Depeschen veröffentlicht – unredigiert, mit den vollen Namen von 100 Personen, die laut US-Botschaften besonderen Schutzes bedürfen. Bisher gibt es zwar keine Erkenntnisse darüber, dass Dissidenten und Informanten in Ländern wie dem Iran oder Weißrussland in Gefahr geraten sind – lediglich ein deutscher FDP-Sprecher und ein türkischer Journalist verloren ihren Job. Aber die Gefahr sei trotzdem real, so Padraig Reidy von der britischen Menschenrechtsorganisation „Index on Censorship“ zur „Presse“: „Wir machen uns wegen dieser Depeschen schon lange Sorgen. Es gibt gar keinen Zweifel, dass viele autokratische Regimes diese Daten jetzt eifrig nach Informationen durchsuchen werden.“ Für die Enthüllungsplattformen sei das Datenleck der GAU, so Reidy: „Hier geht es nicht nur um Wikileaks. Je mehr solcher Plattformen entstehen, desto wichtiger wird es, dass sie Sicherheit zum Herzstück ihrer Arbeit machen.“
Nach Einschätzung von US-Diplomaten hat „Cable-Gate“ bereits Konsequenzen: Ihre Informanten sind vorsichtiger. „Anfangs nahmen sie es mit Galgenhumor“, so ein altgedienter Botschafter zur „New York Times“. „Sie sagten: Zitiert mich bloß richtig, damit ich nicht blöd ausschaue, wenn das hier auch mal veröffentlicht wird.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2011)