Das zähe Leben der westlichen Klischees über Europas Osten

Eine neue Vierteljahreszeitschrift aus Polen will Interessierten das Geschehen im "wilden Osten" näherbringen. Es ist gut gelungen.

Wer sich – im Westen – jemals intensiver mit dem Geschehen in Osteuropa beschäftigte, also mit dem Geschehen in Russland, der Ukraine und Weißrussland, kam um die Expertise, wie sie vor allem in Polen (übrigens auch in Finnland) dazu vorhanden ist, nicht herum. Der Zugang in diesen Ländern zu ihren östlichen Nachbarn ist anders als anderswo in Europa: tiefer, verständnisvoller, auch schärfer. Das hat natürlich vor allem auch mit den historischen Erfahrungen zu tun. Das Problem war, dass halt viele an der Region Interessierte die in Polen (oder Finnland) in den jeweiligen Landessprachen veröffentlichten Arbeiten zu osteuropäischen Themen nicht lesen konnten.

Immerhin, es wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten doch hin und wieder Bücher von polnischen Autoren auch ins Deutsche oder Englische übersetzt – die Russland-Bücher von Mariusz Wilk etwa gehören mit Abstand zum Besten, was in den letzten zwei Jahrzehnten über dieses Land publiziert wurde. Und die Analysen des Warschauer Zentrums für Oststudien gibt es schon seit Jahren auch in englischer Sprache. Inzwischen gibt es einen weiteren Versuch, die polnische Ost-Expertise über die Grenzen Polens hinaus zu vermitteln: „New Eastern Europe“ nennt sich die brandneue Vierteljahreszeitschrift. Herausgegeben wird sie vom Jan Nowak-Jeziorański College für Osteuropa in Wrocław (Breslau), unterstützt wird sie vom Europäischen Solidaritätszentrum in Gdańsk (Danzig), Hauptsitz der Redaktion ist Krakau.

Das erste Heft dieser Zeitschrift jedenfalls erfüllt alle Erwartungen: Namhafte Autoren aus Ost und West, eine Vielzahl von Ländern und eine Vielfalt an Themen wird abgedeckt. Die Texte sind nicht hochgestochen akademisch und übertrieben lang, das Layout ist ausgesprochen angenehm.

Auch ein österreichischer Autor durfte gleich zu Beginn mitmachen: Martin Pollack, einst „Spiegel“-Korrespondent, erfolgreicher Autor und Übersetzer, Polen-, vor allem Galizien-Kenner der Sonderklasse. Sein Thema ist die weit verbreitete Ignoranz, die es in Westeuropa nach wie vor über Mittelost- und Osteuropa gibt, wiewohl der Eiserne Vorhang bereits seit mehr als 20Jahren verschwunden ist. Aber die Stereotype, Klischees und falschen Urteile haben vielerorts überdauert, obwohl die Mehrzahl der früheren „Ostblock“-Staaten inzwischen sogar Partner in der Europäischen Union sind. Grenzen, Mauern, Barrieren des Misstrauens aber verschwänden in den Köpfen der Menschen ganz offensichtlich viel langsamer, als sie dies in der realen Welt der Politik tun, bedauert Pollack. Wohl auch, weil sie weit und tief in die Geschichte zurückreichen – viel weiter als in die Zeit des Kalten Krieges jedenfalls. Pollack zitiert als Beispiel ein paar geradezu ekelhaft arrogante und chauvinistische Auslassungen des österreichischen „Nationaldichters“ Franz Grillparzer über Tschechen und Ungarn.

Die Ignoranz des Westens beklagt auch der rumänische Schriftsteller Filip Florian: „Um im Westen überhaupt wahrgenommen zu werden, hat ein rumänischer Intellektueller keine andere Wahl als seine Heimat zu verlassen, seine Staatsbürgerschaft aufzugeben und seinen Geburtsort aus dem Personalausweis zu löschen.“

Ganz abgesehen von intellektuellen Diskursen erfährt man in dieser Zeitschrift auch einiges über den Stand der EM-Vorbereitungen in der Ukraine, die demografischen Probleme Russlands, die Untergrundkultur in St. Petersburg, das seltsame Weltbild des Herrschers von Transnistrien und noch vieles, vieles andere mehr. Insgesamt: ein rundum gelungener Zeitschriften-Neustart.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2011)

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