Eros des Denkens sollte die jüngste Schulreform ergänzen

Gastkommentar. Was haben klassische Sprachen und die antike Philosophie mit „Kompetenzen“ zu tun? Schüler sollen sich Fragen widmen können, die uns alle angehen.

Der für unzählige Generationen von Schülern gültige Titel „Schularbeit“ existiert nicht mehr. Anstatt dessen gibt es nun die „Performanz“, bei der eine Reihe von „Kompetenzaufgaben“ bestmöglich gelöst werden soll.

„Kompetenzen“ haben in so gut wie allen Gegenständen Einzug gehalten, und die Lehrer werden bundesweit in die Handhabung dieser „neuen“ Arbeitsformate eingeschult, damit die erstmals für den Jahrgang 2013/14 geplante „kompetenzorientierte“ Zentralmatura reibungslos funktionieren kann.

So manche Zweifel, die ein kritischer Beobachter dieser Entwicklungen hegen könnte, scheinen berechtigt: Wird die hochgelobte Zentralmatura das halten können, was sie verspricht – nämlich darüber Auskunft zu geben, ob jemand „reif“, also studierfähig, ist oder nicht? Was ist die Matura überhaupt (noch) wert?

Und weiter gedacht: Werden „kompetenzgeschulte“ Maturanten tatsächlich besser für ihr späteres (Berufs-)Leben gerüstet sein? Werden sie – ausgestattet mit instrumentalisierbarem technischen „Wissen“ – in unserer „Know-how-Wissensgesellschaft“ reüssieren oder entwickeln sie sich am Ende gar zu „Bildungsbürgern“?

Zur Klarstellung einige grundlegende Bemerkungen: In der gegenwärtigen „Bildungsdiskussion“ wird die aktuelle Entwicklung immer wieder mit dem im 18. Jahrhundert konzipierten Humbold'schen Bildungsideal kontrastiert.

Die Wertigkeit der Matura

Jüngst wurde in einem zwischen dem Philosophen Konrad Paul Liessmann und Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle geführten (Streit-)Gespräch sogar die seinerzeitige, auf den Septem Artes liberales basierende Aristenfakultät heraufbeschworen. Sie befähigte die Menschen zum Studium an den drei höheren Fakultäten, Theologie, Medizin und Jurisprudenz; deren Aufgabe wurde dann im 19. Jahrhundert vom humanistischen Gymnasium übernommen.

Hier liegt der Kernpunkt der Diskussion: Angesichts des geforderten freien Zugangs zur Universität führt wohl kein Weg daran vorbei, die Wertigkeit der Matura viel genauer unter die Lupe zu nehmen. Es bedarf sogar eines gehöriges Maßes an Mut und Entschlusskraft, den Gymnasien (und damit auch ihrer Abschlussprüfung!) wieder etwas von dem zurückzugeben, wofür sie einst gestanden waren.

Fülle an Bildungsangeboten

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wir haben heute eine sehr vielfältige Schullandschaft. Die Schule von heute hat sich vielen neuen Herausforderungen zu stellen und muss ebenso den geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Dazu sind exzellente berufsbildende höhere Schulen vorhanden, die einen direkten Weg ins Berufsleben vorzeichnen.

Auf der anderen Seite aber gibt es viele junge Menschen mit vielfältigen Talenten. Sie sollten eine Chance haben, aus einem Gymnasium mit einer soliden Allgemeinbildung möglichst viel an Bildung mitzunehmen, die nicht nur zur Herzens- und Charakterbildung Wesentliches beiträgt, sondern in ihnen auch den Eros des Denkens, Suchens und Forschens weckt, ohne den sie für ein universitäres Studium wenig geeignet wären.

Viele Reformen und neue Schultypen haben vom hehren Geist des Humboldt'schen Gymnasiums nur wenig übrig gelassen. Angesichts der Fülle an „Bildungsangeboten“ wird es für junge Menschen zusehends schwieriger, sich zurechtzufinden.

Allzu verlockend erscheint oftmals die Aussicht auf unmittelbar verwertbares, anwendungsorientiertes Wissen, womit wir wieder bei den Kompetenzen angelangt sind. Dem ist entgegenzuhalten, dass jeder erst im Laufe seiner Lebenserfahrung den Wert von Bildung im vollen Umfang beurteilen und nur im Rückblick den Nutzen dessen erkennen kann, was ihm in der Schule abverlangt wurde.

Ein überlegenswertes „Bildungsangebot“ könnte darin bestehen, das alte humanistische Gymnasium als vorbereitendes Propädeutikum für eine akademische Laufbahn mit Zusatzangeboten (wie z. B. intensiverer Auseinandersetzung mit antiker Philosophie) wieder verstärkt zu beleben. Hier böte sich die Gelegenheit, den buchstäblichen Sinn von Schule (sie leitet sich vom griechischen Wort „schole“ her, das „Muße, Freizeit“ heißt!) aufzuspüren.

Jugendlichen sollte die Chance geboten werden, in einer wohltuenden Distanz zur allseits geforderten „Lebensnähe“ und frei vom Diktat der „Brauchbarkeit“ sich philosophischen Fragen zu widmen, die uns alle angehen und die heute wie damals die unseren sind: Fragen nach der Erklärung der Welt, nach dem Miteinander in einem sozialen Gefüge, nach dem moralisch richtigen Handeln, nach Glück, Leid und Tod.

Training mit klassischen Sprachen

Zudem wäre so mancher überrascht, wie viele der heute geforderten Kompetenzen anhand klassischer Sprachen trainiert werden können. Eine Beschäftigung mit den Denkweisen antiker Philosophen würde zeigen, dass die Bedeutung des griechischen Wortes „sophia“ schon in der Antike nicht nur „Wissen, Weisheit, Bildung“ war, sondern auch „Einsicht“ und „Klugheit“, die entsprechende Fachkompetenz im Sinne eines anwendungsbezogenen Expertenwissens miteinbezieht. Also eine wichtige Schulung für eine erfolgreiche Performanz der Kompetenz.

Und wenn wir an die Debatte um die Regelung des freien Hochschulzugangs denken, so können wir uns doch nichts sehnlicher wünschen als erfolgreiche Absolventen eines philosophischen Propädeutikums, die nicht nur in Rhetorik und Argumentation geschult sind, sondern auch den Eros des Denkens kennengelernt haben.

Zur Person


E-Mails an: debatte@diepresse.comMichaela Masek studierte Klassische Philologie und Psychologie/Philosophie. Sie lehrt Latein, Griechisch und Philosophie/Psychologie an einem Wiener Gymnasium und ist Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Wien. 2011 erschien der Band „Geschichte der antiken Philosophie“ bei Facultas WUV. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2012)

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