Kurz vor dem Ableben Shukri Ghanems, dem einstigen Vertrauten des getöteten Ex-Diktators Muammar al-Gaddafi und dessen Sohnes Saif, erließ Libyens Justiz einen Haftbefehl.
Wien/Cu/Hd/A.h. War es tatsächlich Mord? Selbstmord? Oder am Ende doch „nur“ ein bedauerlicher Unfall? Noch ist nicht geklärt, was hinter dem Tod von Libyens Ex-Premier und -Ölminister Shukri Ghanem steckt. Der 69-Jährige, der mit seiner Familie in Wien lebte, war Sonntagmorgen von einem Passanten tot in der Neuen Donau aufgefunden worden.
Doch eines ist klar: Ghanem stand kurz vor seinem Tod unter massivem Druck. Gegen den einstigen Vertrauten des getöteten Ex-Diktators Muammar al-Gaddafi und dessen Sohnes Saif – eine Zeit lang galt er als Nummer zwei des Regimes – wurde in Libyen Tage vor seinem mysteriösen Ableben ein Haftbefehl erlassen. Dies erfuhr „Die Presse“ aus Justizkreisen in Tripolis. In libyschen Medien kursierten Korruptionsvorwürfe.
Die Ermittlungen im persönlichen Umfeld des Toten sind für die Polizei äußerst schwierig, wie Sprecher Roman Hahslinger darlegt: Seine Frau und eine der drei Töchter haben Wien nämlich offenbar kurz nach der Todesnachricht Richtung Libyen verlassen. Befragt werden konnte lediglich die hier verbliebene dritte Tochter. Die Familie Ghanem hat enge Verbindungen zu Wien, seit der Libyer hier für ein paar Jahre Vizegeneralsekretär der Organisation erdölexportierender Länder war. Und Wien, wo Ghanem in der Kratochwjlestraße 12 im 22.Bezirk eine Wohnung hatte, wurde wieder zu seinem Lebensmittelpunkt, nachdem er sich im Mai 2011 schließlich vom stürzenden Gaddafi-Regime abgewendet hatte.
Damit hat er sich allerdings in beiden Lagern unbeliebt gemacht: bei den Gaddafi-treuen, weil er ihnen den Rücken kehrte, und bei den damaligen Rebellen, die jetzt an der Regierung sind, weil er es erst so spät tat. Er hatte zwar dem Vernehmen nach gute Verbindungen zu einigen wichtigen Köpfen im Nationalen Übergangsrat in Tripolis, viele dort haben ihm aber bis zuletzt misstraut.
Gefährliches Wissen
Zudem wusste Ghanem als ehemaliger Ölminister wohl gut, wer in Libyen etwas aus den Öleinnahmen des Landes in die eigenen Taschen steckte, und wo es, nachdem der Westen wieder in Libyen zu investieren begann, bei der Vergabe von Aufträgen zu Schmiergeldzahlungen gekommen war. Ein gefährliches Wissen.
Es gäbe also gleich einige Seiten, die ein Motiv für einen Mord hätten. Augenzeuge hat sich bisher keiner gemeldet, und zunächst deutete auch nichts auf Fremdverschulden hin, wie es seitens der Polizei hieß, das Ergebnis einer toxikologischen Untersuchung werde allerdings erst nächste Woche vorliegen. Derweil suchen das Landeskriminalamt und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz nach weiteren Spuren.
Hatte Ghanem Depressionen?
Falls Mord ausgeschlossen werden kann, blieben die Selbstmord- und die Unfallvariante. Ein Abschiedsbrief, in dem er seine Gründe dargelegt hätte, wurde, soweit bekannt ist, nicht gefunden. Allerdings gibt es Gerüchte, dass Ghanem zuletzt an Depressionen gelitten haben soll und deshalb auch in ärztlicher Behandlung war. Bestätigung dafür gab es am Dienstag allerdings keine. Was die Polizei aus den Aussagen seiner Tochter weiß: Die beiden haben Samstagabend gemeinsam ferngesehen. Dabei habe Shukri Ghanem über Unwohlsein geklagt. In der Früh habe sie bemerkt, dass ihr Vater das Haus verlassen habe, so die Tochter.
Dies muss zwischen 23 Uhr und acht Uhr morgens gewesen sein, Ghanem war geschäftsmäßig gekleidet, trug Anzug und Hemd. Zuletzt arbeitete er in der Krugerstraße im ersten Wiener Bezirk für eine Beraterfirma. Wem er seine Expertise zugutekommen ließ, ist derzeit nicht bekannt, die OMV war es laut Aussage ihres Sprechers Sven Pusswald jedenfalls nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2012)