Südkoreas Präsident ordnet „komplette militärische Neuorientierung“ an. Die Opposition will noch weiter gehen.
Seoul/Tokio. Südkoreas neuer Staatspräsident, Moon Jae-in, vollzieht eine komplette Wende. Bisher hatte der linksliberale Staatschef stets gehofft, die besonderen nationalen Bande zwischen beiden Koreas für einen Entspannungsdialog nutzen zu können. Nachdem Nordkoreas Außenminister dieses Gesprächsangebot jedoch offiziell als „unaufrichtig“ abgelehnt hat, setzt Seoul nun wieder auf Abschreckung durch militärische Stärke. Sollte der Norden seine „Provokationen“ nicht umgehend unterlassen, werde Südkorea gemeinsam mit seinen Alliierten „harte und resolute Vergeltung“ üben, sagte Generalstabschef Roh Jae-cheon.
Noch schärfere Töne schlägt die konservative Oppositionspartei, Freiheitliches Korea, an. Deren Fraktionschef fordert nun sogar die atomare Aufrüstung Südkoreas. „Die Zeit, taktische Atomwaffen zurückzubringen, ist reif“, sagte Chung Woo-taik zur Nachrichtenagentur Reuters. Nordkorea habe das Abkommen zur nuklearen Abrüstung bereits vor langer Zeit gebrochen.
Auch Präsident Moon glaubt offenbar nicht mehr an Vernunft und Einsicht seines Konterparts Kim Jong-un. Der südkoreanische Staatschef sprach sich für eine massive Neuformierung seines Militärs aus. „Ich glaube, uns hilft jetzt nur noch eine vollständige Verteidigungsreform als eine Art Wiedergeburt anstelle von einigen Verbesserungen oder Modifizierungen“, sagte er in seinem Amtssitz, dem Blauen Haus von Seoul. „Anders können wir uns gegen Nordkoreas Atom- und Raketenprogramm nicht mehr zur Wehr setzen.“
Für Präsident Moon, der einst mit seinen Eltern aus Nordkorea geflohen ist, ist das eine totale Abkehr von seinen bisherigen politischen Ambitionen. Im Wahlkampf Mitte Mai hatte er noch eine „neue Vision für Frieden auf der koreanischen Halbinsel“ verkündet. Dafür sei er erklärtermaßen auch bereit, den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un trotz dessen Provokationen persönlich zu treffen. Es brauche eine konsequente vertrauensbildende Politik und den Austausch zwischen den Menschen.
Daraufhin hatte Moon den Norden Mitte Juli eingeladen, den seit Dezember 2015 gerissenen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Konkret schlug er Militärgespräche und weitere Familientreffen zwischen Nord und Süd vor. Der dafür angebotene Termin 27. Juli, Jahrestag des Waffenstillstands von 1953, ist jedoch längst verstrichen. Südkorea verfolgt aber weiterhin eine Art Doppelstrategie aus Sanktionen und Dialog.
Den neuen Staatschef treibt die Sorge um, dass sich die Lage bis zu einem Krieg zuspitzen könnte. Nach Angaben des Präsidialamtes in Seoul glaubt Moon an die Möglichkeit eines Grenzkonfliktes. Er wird mit den Worten zitiert: „Die Realität sieht so aus, dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen militärischen Konflikt entlang der Demarkationslinie gibt.“ Eine bewaffnete Eskalation beträfe in erster Linie Südkorea.
700 Raketen auf Seoul gerichtet
Nur 50 Kilometer südlich der schwer bewaffneten Grenze zwischen beiden Koreas leben rund 25 Millionen Menschen im Großraum Seoul. Auch ohne den Einsatz von Atomwaffen wären vermutlich Hunderttausende Menschen in akuter Lebensgefahr. Nordkorea soll bis zu 25.000 Artilleriegeschütze und Raketenstellungen besitzen, mindestens 700 Kanonen und Raketenwerfer sind auf Seoul gerichtet. Die Hauptstadt verfügt über kein strategisches Hinterland und ist praktisch nicht zu evakuieren.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2017)