Ein Revolutionsjubiläum, auf das Putin verzichten könnte

Kein willkommenes Gedenken für Putin: Die Bolschewiken setzten die imperiale Größe Russlands aufs Spiel.
Kein willkommenes Gedenken für Putin: Die Bolschewiken setzten die imperiale Größe Russlands aufs Spiel.REUTERS
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Der russische Präsident ist kein Freund der Machtergreifung Lenins. Beim Gedenken an die Revolution rückt der Triumph der Staatlichkeit nach der „Zeit der Wirren“ in den Vordergrund.

Kaum ein Ort könnte weiter entfernt sein von Revolutionsromantik als der 56. Stock eines Wolkenkratzers im Geschäftsviertel Moskau City. Wie strahlende Leuchttürme stehen die Hochhäuser am Ufer der Moskwa und tragen Namen wie Tower 2000, Evolution, Eurasia und Imperia. Sie sind die Symbole des neuen Russlands, sie stehen für die Macht des Kapitals.

Ausgerechnet hierher also, in den Imperia-Tower in eine selbstverständlich rundum verglaste Bar mit bester Aussicht, hat Michail Sygar geladen. Sygar, Journalist und Autor eines Sachbuchs über das Netzwerk von Kreml-Chef Wladimir Putin, hat ein neues Werk über die Protagonisten der Russischen Revolution von 1917 geschrieben. Das 908Seiten starke Buch in prunkvoller rot-goldener Aufmachung trägt den provokanten Titel „Das Imperium muss sterben“. Ist damit nur das alte Zarenreich gemeint, oder sollen in schwindelerregender Höhe die Gedanken schweifen: Womöglich ist auch das neue, in seiner vermeintlichen Höchstphase befindliche Imperium der Gegenwart kurz vor dem Sturz?

Ein reizvolles Motto, eine kokette Anspielung. Zumindest in dieser Runde angeheiterter Bohemians und regierungsskeptischer Young Professionals, die wie ferne Nachfahren der liberalen Intelligenz wirken, die in St. Petersburger Salons mit den Aufständischen der Februartage 1917 sympathisierte.

Die Revolution ist verschoben. Sygar hat für sein Revolutionsprojekt, das auch die interaktive Webseite Project1917.ru umfasst, seinen Job beim unabhängigen Onlinefernsehkanal Doschd an den Nagel gehängt. Die erste Auflage des vielstimmigen, packenden Buches ist fast verkauft. Mit einem Dreitagebart, in engen Jeans und Schnürschuhen tritt er vor das Publikum. Statt einer öden Lesung gibt es Entertainment. Sygar wirft den Gästen Fragen entgegen – Wie viele Pseudonyme hatte Lenin? (Antwort: unendlich viele) – und verteilt Restexemplare in der Menge. Statt Revolutionspläne zu schmieden, bestellen die Gäste weiter Cocktails.

Russland im Gedenkjahr 2017: Die Revolution, die sich am 7. November zum 100. Mal jährt, muss gefeiert werden. Mit Inbrunst und sturer Überzeugung tut das heute nur noch die Kommunistische Partei Russlands, die gleich zu einem mehrtägigen Treffen kommunistischer Parteien nach St. Petersburg – ins damalige Petrograd – geladen hat. Hier hielt sie in den vergangenen Tagen einen Kongress der kommunistischen Parteien ab. In Moskau wird man am nächsten Dienstag einen Gedenkmarsch zu Ehren der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution abhalten, wie sie von den überzeugten Roten noch immer genannt wird. Die Parolen lassen nicht an der Geschichtsvergessenheit der Partei zweifeln: „Lenin – Stalin – Sieg“ ist eine, dass der 7.November (nach altem Kalender der 25. Oktober) der „größte staatliche Feiertag“ sei, eine andere.

Kein Feiertag mehr. Doch die staatliche Politik hat längst andere Wege eingeschlagen. Die Revolution ist kein offizieller Feiertag mehr. Der 7. November, an dem man des Beginns des bewaffneten Aufstands der Bolschewiken gedacht hat, ist seit 2005 durch den Tag der Nationalen Einheit am 4. November ersetzt. Doch eine besondere Bedeutung im russischen nationalen Gedächtnis hat der neue Feiertag nicht – auch wenn die Moskauer Stadtregierung an diesem Wochenende 196 Millionen Rubel, immerhin knapp drei Millionen Euro, für zehn Wetterflugzeuge ausgeben wird, um die in diesen Spätherbsttagen dichte Wolkendecke zu vertreiben.

Ob Sonne, Regen oder gar Schnee: Konnte der Kreml in den vergangenen Jahren das Revolutionsgedenken an die Unverbesserlichen auslagern, ist das heuer nicht möglich. Grundsätzlich sei es für ein auf Dauer angelegtes System ein „paradoxes Geschäft“, an einen gewaltsamen Umbruch zu erinnern, sagt der an der Universität St.Gallen lehrende Kulturwissenschaftler und Russland-Publizist Ulrich M. Schmid im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Das Jubiläum sei für die Kreml-Führung aus mehreren Gründen „heikel“.

„Die Weltrevolution haben wir nicht gebraucht“, erklärte Präsident Wladimir Putin im Vorjahr. Lenin sei verantwortlich für den Tod der Zarenfamilie und von vielen Priestern. Er habe „eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, das Russland heißt, und die ist dann explodiert“. Damit verurteilte Putin Lenins Schritt, Sowjetterritorien Autonomie und föderale Rechte zu gewähren. Vermutlich würde Putin lieber heute als morgen den einbalsamierten Sowjetführer aus seinem Mausoleum auf dem Roten Platz entfernen. Zu kontrovers wäre diese Tat im Gedenkjahr. Womöglich aber könnte die Kreml-Führung in den nächsten fünf bis zehn Jahren diesen Schritt wagen, schätzt Ulrich M. Schmid.

Was tun? Und wer ist schuld? Wie ungern der Kreml sich mit dem historischen Jubiläum beschäftigt, ist auch daran abzulesen, dass Putin erst Ende vergangenen Jahres die offiziellen Feierlichkeiten in Auftrag gegeben hat. Er lagerte sie an die Russische Historische Gesellschaft aus, die daraufhin ein Programm mit mehr als hundert Veranstaltungen entwarf: Konferenzen, Ausstellungen, Buchpräsentationen. Eine offizielle Gedenkveranstaltung des Kreml wird es nicht geben, gab Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow erst vor einigen Tagen bekannt.

Während Kreml-Kritiker wie Sygar den Jahrestag für den Vergleich zweier Systeme heranziehen, die beide auf undurchsichtigen Netzwerken beruhen, und Publizisten die Allmacht des „neuen Zaren“ beschwören (Stephen Lee Myers in seiner im Vorjahr erschienenen Putin-Biografie), verfolgt der offizielle Diskurs im Gedenkjahr genau das Gegenteil. Der Topos des Umsturzes ist tabu. Ein schwieriges Unterfangen bleibt es dennoch, die Revolution in die offizielle Geschichte einzuschreiben, für die Gegenwart nutzbar zu machen. Wie auch Lenin gefragt hätte: Was tun? Und die nicht minder wichtige, zweite der russischen Fragen: Wer ist schuld?

Putin hat nicht nur ein Problem mit Revolutionären. Revolutionen mag er, der Bewahrer, nicht. Wenn sich in den letzten zwei Jahrzehnten politische Erschütterungen in Russlands Nachbarschaft ereignet haben, hat man stets ablehnend reagiert oder diese zu verhindern gesucht: Stichwort Massendemonstrationen in Armenien oder der Republik Moldau, und natürlich die Farbrevolutionen in Georgien, der Ukraine und Kirgistan, wo selbstherrliche Herrscher unter dem öffentlichen Druck abtreten mussten. Moskau stützt die alten Systeme und stellt die Bürgerbewegungen häufig als Resultat einer ausländischen Einflussnahme dar. Viele TV-Sendungen warnen vor dem Entstehen eines „Maidan“ in Russland.

Eine zu diesem Topos passende Lehre aus der Revolution zog Außenminister Sergej Lawrow diese Woche bei der vom staatlichen Komitee für Auslandsrussen organisierten Konferenz „Einheit für die Zukunft“. Der gewaltsame Umbruch von 1917 habe erst zur Gründung russischer Diaspora-Gemeinden weltweit geführt. „Wir verstehen den Unsinn der Verpflanzung von jedweder Ideologie, des Exports von Entwicklungsmodellen ohne Berücksichtigung der lokalen Spezifika.“ Die Revolution von 1917 als Warnung für die Gegenwart also.
Die Zeit der „Wirren“.
Wenn sich die Revolution schon nicht positiv deuten lässt, so lässt sie sich zumindest umdeuten. In der offiziellen Darstellung, die 2015 von Kulturminister Wladimir Medinskij angeregt wurde, spricht man mittlerweile von einer längeren „Zeit der Wirren“, wie Kulturwissenschaftler Schmid herausgearbeitet hat. So gesehen wurde die Kontinuität des russischen Staates mehrmals in der Geschichte bedroht. Im 17. Jahrhundert beim schwierigen Übergang der Rurikiden-Dynastie zu den Romanows, zur Phase der Großen Russländischen Revolution, die man nun von 1917 bis 1922 ausdehnt, und in der instabilen Jelzin-Zeit in den 1990er-Jahren. Immer folgte auf diese Phase der Unsicherheit eine staatliche Konsolidierung, die ein übergeordnetes Ziel – den Erhalt der russischen Staatlichkeit, der imperialen Macht – verfolgte. Nach der Revolution sicherte Sowjetführer Stalin das Reich, auf Jelzin folgte Putin.

Mit ähnlicher Verachtung wie für Lenin hat Putin übrigens über den letzten Zaren, NikolausII., gesprochen. „Die größten Verbrecher unserer Geschichte waren jene Schwächlinge, die die Macht einfach aus der Hand gaben – Nikolaus II. und Michail Gorbatschow – und zuließen, dass sie von Hysterikern und Verrückten ergriffen wurde“, sagte er in einem Interview mit „Newsweek“. Die Verantwortung des Zaren an der Revolution, als er schon im März 1917 auf den Thron verzichtet hat, beschäftigt noch heute russische Historiker. Nikolaus II. wird auch aktuell in einem opulenten Historienfilm des russischen Regisseurs Alexej Utschtitel als entscheidungsschwacher Herrscher porträtiert wird – jedoch war es sein Verhältnis mit einer Ballerina, das für Debatten sorgte.

Da die Ära der Revolution keine passenden Helden zu bieten hat, sucht das gegenwärtige Russland sie in anderen Epochen. Großfürst Wladimir, der die Kiewer Rus im zehnten Jahrhundert ins Christentum führte, setzte man etwa im Vorjahr am Rande des Kreml ein riesiges Denkmal – auch wenn Wladimir nie in Moskau war, wie Schmid anführt, „weil es die Stadt damals noch gar nicht gab“.
In der Allee der Staatslenker. Auch Josif Stalin wird seit geraumer Zeit reaktiviert, sodass Verurteilung und Verehrung in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen. „In Russland scheint eine ,chinesische Sprachregelung‘ zu herrschen“, sagt Schmid. „Stalin war – wie Mao in der offiziellen Sicht Pekings – zu 30 Prozent schlecht und zu 70 Prozent gut.“ Die brutale Repression wird mit der Industrialisierung, dem Sieg über Hitler-Deutschland und der Eroberung des Kosmos überblendet.

In den letzten Jahren sind Denkmäler entstanden, die den Sowjetführer zwar nicht allein verehren, ihn aber in eine Reihe großer Staatsmänner stellen. Auf der annektierten Krim wurde 2015 zum Gedenken an die Jalta-Konferenz ein bronzenes Herrentrio eingeweiht: Stalin ins Gespräch vertieft mit Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt. In der Moskauer Allee der Staatslenker steht seine Büste in einer Reihe zwischen der Lenins und Chruschtschows.

Stalin kommt auch als Zeitzeuge in Michail Sygars Onlinegeschichtsprojekt Project1917.ru vor, gehuldigt wird ihm hier aber nicht. Der Hipster aus dem Imperia-Turm beleuchtet das, was sowohl in der offiziellen als auch in der roten Inszenierung fehlt: den Alltag und das Schicksal vieler Zeitgenossen, ihre Ängste und Hoffnungen. Im Project1917.ru ist die Revolution für die Internetgeneration aufgearbeitet. Dutzende Protagonisten von damals geben auf einer an Facebook erinnernden Timeline ihre Meinung zum Besten, posten Fotos, Gedichte. Eine Kakofonie an Stimmen, die daran erinnert, dass auch 1917 der Ausgang der Geschichte für einige Zeit offen war.

Revolution?!

Zu Sowjetzeiten bezeichnete man die Machtergreifung der Bolschewiken als Große Sozialistische Oktoberrevolution. Mittlerweile greift die offizielle Politik auf den Begriff Große Russländische Revolution zurück, die den Oktober-Umsturz in eine längere Phase einfügt (1917–1922). Lenins Einfluss wird damit relativiert – im Zentrum nun: die „Zeit der Wirren“.

„Project 1917“

Der Journalist Michail Sygar hat die Russische Revolution für die Internetgeneration aufgearbeitet. Die Seite Project1917.ru funktioniert wie eine Facebook-Timeline, auf der die Protagonisten von damals (historisch wahre) Statusmeldungen posten.

Sygars Sachbuch über die Netzwerke des Kreml-Chefs, „Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin“, machte ihn auch hierzulande bekannt.

CHRONOLOGIE

Februar 1917.
Im Jänner kommt es zu Massenprotesten am Jahrestag des „Blutsonntags“ von 1905. Im Februar schließen sich Soldaten dem Aufstand an. Mitte März verzichtet der Zar auf den Thron.


Oktober 1917.
Die Konflikte zwischen provisorischer Regierung und Arbeiterräten nehmen zu. Die Bolschewiki unter dem aus dem Exil zurückgekehrten Lenin putschen sich am 7. November an die Macht.

Bürgerkrieg bis 1922.

Zarentreue Verbände („Weiße“) und „Rote“ bekämpfen einander.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2017)

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