Dublin setzt Großbritannien unter Druck und fordert eine schriftliche Zusage, dass es nach dem Brexit keine inneririschen Grenzkontrollen geben wird.
Dublin/London/Wien. Ausstehende Verbindlichkeiten beim EU-Budget, Rechte der in Großbritannien lebenden EU-Bürger sowie die innerirische Grenze – auf diese drei Fragen will die EU von Großbritannien Antworten erhalten, bevor sie mit London über die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen diskutieren will. Ursprünglich galt das Geld als größter Stolperstein auf dem Weg zu einer Einigung, die – so die Hoffnung von Premierministerin Theresa May – beim EU-Gipfel am 14./15. Dezember verkündet werden sollte. Doch in der Zwischenzeit hat die Causa Irland die britischen Beiträge zum EU-Haushalt als Hauptproblem abgelöst.
Bei einem Treffen am Rande des EU-Sozialgipfels in Göteborg Ende vergangener Woche wies Irlands Ministerpräsident, Leo Varadkar, May darauf hin, dass er ein Veto gegen den Abschluss der ersten Verhandlungsphase einlegen werde, sollten die Briten nicht schriftlich zusichern, dass die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland nach dem Brexit am 29. März 2019 offen bleiben werde. Varadkars Ultimatum ist explosiv, denn May hat den Briten den Austritt aus dem EU-Binnenmarkt versprochen. Wenn Großbritannien die Union verlässt, wird die innerirische Grenze automatisch zur EU-Außengrenze – wodurch Zoll- und Personenkontrolle unumgänglich werden.
Frist bis Anfang Dezember
Eine „harte“ innerirische Grenze lässt sich aus EU-Perspektive nur auf zwei Arten abwenden. Möglichkeit eins: London tritt wie angekündigt aus, entschließt sich aber dazu, Nordirland im Binnenmarkt zu belassen und verlegt die Außengrenze ins Irische Meer. Möglichkeit zwei: Großbritannien verbleibt als Ganzes im EU-Binnenmarkt.
Beide Varianten werden von der britischen Regierung abgelehnt – stattdessen schlägt London „kreative technische Lösungen“ für die Grenzfrage vor, die aber bis dato nicht präzisiert wurden. In Brüssel sorgt die Pattsituation für wachsende Beunruhigung. Ratspräsident Donald Tusk gab Theresa May zwei Wochen Zeit, um konstruktive Lösungsvorschläge anzubieten – sonst könne die EU nicht mit den Verhandlungen über die Zukunftsfragen beginnen.
Dass die Iren ausgerechnet jetzt von London schriftliche Zusagen verlangen, hat zwei Gründe. Erstens die Dramaturgie der Brexit-Verhandlungen: Da die Unionsmitglieder alle zentralen Beschlüsse einstimmig fassen müssen, kann Dublin die Briten momentan besonders effektiv unter Druck setzen. Sobald die erste Verhandlungsphase abgeschlossen ist und die Gespräche über das Handelsabkommen begonnen haben, ist wieder die EU-Kommission am Zug, die im Namen der EU-27 mit Großbritannien verhandelt. Und die Vetodrohung wäre bis Ende 2018 vom Tisch – wenn die EU-Mitglieder und das Europaparlament das Abkommen (sofern es bis dahin auch tatsächlich ausverhandelt wurde) ratifizieren müssen. Zugleich werden auch in der irischen Innenpolitik die Karten neu gemischt.
Der angekündigte Rücktritt von Gerry Adams von der Spitze der Sinn-Féin-Partei (siehe unten) bringt die Parteilandschaft in Bewegung – zumal das Stillhalteabkommen, mit dem sich Varadkars Minderheitsregierung an der Macht hält, nächstes Jahr auslaufen dürfte. Die irischen Großparteien hielten wegen Adams' Nähe zur Untergrundarmee IRA bis dato Abstand zu Sinn Féin. Mit einem neuen Gesicht an der Parteispitze werden die Linksnationalisten zu einem potenziellen Koalitionspartner für das Dubliner Establishment. Doch Sinn Féin ist nicht nur im irischen Parlament vertreten, sondern auch die zweitstärkste Kraft im nordirischen Abgeordnetenhaus in Belfast – und lehnt Grenzkontrollen vehement ab.
Die Regierung in London versprüht unterdessen demonstrativ Optimismus: Großbritannien werde rechtzeitig Vorschläge einreichen, um seinen finanziellen Verpflichtungen der EU gegenüber gerecht zu werden, sagte gestern Schatzkanzler Philip Hammond. Zur Causa Irland äußerte er sich nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2017)