Kampf gegen Kurdenmilizen

Erdoğans islamistische Bodentruppen in Syrien

Ein Selfie vor dem Einsatz in Afrin. Syrische Rebelleneinheiten ziehen für die Türkei in die Schlacht gegen kurdische Milizen.
Ein Selfie vor dem Einsatz in Afrin. Syrische Rebelleneinheiten ziehen für die Türkei in die Schlacht gegen kurdische Milizen.(c) APA/AFP/BULENT KILIC
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Beim Angriff auf die kurdisch kontrollierte Region Afrin in Nordwestsyrien setzt die Türkei auf verbündete Rebellen. Unter ihnen sind auch islamistische Gruppen. Vertreter von Jesiden und Christen sind alarmiert.

Tanger/Afrin. „Oh Mohammed, du bist unser Führer für immer“, skandierten die Kämpfer ins Dunkel der Nacht hinaus. „Unser Treueschwur gehört dir, oh Allah.“ Dabei streckten die Männer mit ihren langen Bärten und Haaren ihre Kalaschnikows in die Höhe. Solche Bilder waren zuletzt von Soldaten der sogenannten Freien Syrischen Armee (FSA) zu sehen, die sich für den Angriff auf die Region Afrin Mut machten. 5000 von ihnen sollen mithilfe der türkischen Armee das Gebiet im Nordwesten Syriens erobern. Denn Afrin wird von den vorwiegend kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrolliert, die die Türkei als terroristische Organisation einstuft.

„Im Moment werden wir von den Türken aus der Luft bombardiert und mit Artillerie beschossen“, sagt Sileman Cafer aus Afrin zur „Presse“. „Aber die jihadistischen Gruppen machen uns am meisten Sorge.“ Der jesidische Scheich und Politiker im Außenministerium des Kantons fordert das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft. „Wir kennen diese Islamisten, sie haben uns im Lauf des Bürgerkriegs schon oft angegriffen, und immer dort, wo es am meisten Jesiden gegeben hat.“ Rund 20.000 Jesiden leben in 21 Dörfern in Afrin. Viele der Orte liegen ganz nah an der türkischen Grenze. Manchmal nur 500 oder 200 Meter davon entfernt.

Auch die Christen in Afrin riefen um Hilfe. In mehreren Briefen schrieb der Priester Ali Hakim von der „großen Gefahr, die von der Türkei und ihrer jihadistischen Allianz“ für die 250 christlichen Familien ausgehe.

Angst vor Vertreibung

Christen und Jesiden in Syrien und im Irak hatten besonders unter dem Islamischen Staat (IS), aber auch unter anderen extremistischen Gruppen zu leiden. Es gab Massaker, Entführungen, eine systematische Vertreibung der beiden religiösen Minderheiten, ihre Kultstätten und historischen Baudenkmäler wurden zerstört. Bisher zählte Afrin zu einem der eher friedlichen Gebiete im mittlerweile sieben Jahre andauernden syrischen Bürgerkrieg. Aber nun, unter dem Angriff der Türkei und ihrer Hilfstruppen, befürchten Christen und Jesiden das Allerschlimmste.

Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs hat Ankara extremistische Organisationen unterstützt, zu denen auch der IS gehört hat. Voriges Jahr hat die Türkei nun eine syrische Nationale Armee gegründet, mit mehr als 30 verschiedenen FSA-Milizen und 22.000 Mann. Ankara versucht, Ordnung ins Chaos der vielen syrischen Milizen zu bringen. Aber die Nationale Armee ist nicht nur ein Sammelbecken moderater Gruppen. Viele haben islamistischen Hintergrund und werden schwerer Menschenrechtsverletzungen beschuldigt. Die neue Truppe ist eine Gelegenheit, bei Bedarf auch andere Radikale zu reintegrieren. Dazu zählen Ahrar al-Sham, die Freien Männer Syriens, die sich zwischen der Ideologie von al-Qaida und der Muslimbruderschaft bis heute nicht entscheiden konnten. Mit der Nationalen Armee könnte die Türkei dieser von ihr unterstützten Gruppe das Überleben in der Zeit nach dem Bürgerkrieg sichern.

„USA hat Gruppen überprüft“

„Man sollte nicht so viel auf Äußerlichkeiten geben“, meint Charles Lister, ein bekannter Syrien-Experte, angesprochen auf die Videos mit den „Gott ist groß!“-Rufen der syrischen Oppositionskämpfer. „Alle Gruppen, die sich an der türkischen Offensive beteiligen, sind von den USA irgendwann einmal unterstützt und genau überprüft worden.“ Mit Sicherheit seien sie nicht säkular, aber eben auch keine Jihadisten, betont das leitende Mitglied des Middle East Institute, einer Denkfabrik in Washington. Sie hätten eine arabisch-nationale Gesinnung, meint Lister. Das Wort Demokratie würden sie zwar nicht in den Mund nehmen, aber Wahlen und Parlament würden sie befürworten. Einwände, dass einige dieser Gruppen doch wesentlich radikaler seien, als sie sich geben, lässt der Forscher nicht gelten: „Alle sind von den USA durchleuchtet worden.“

Jedenfalls sitzt bei Syriens Opposition der Hass auf die Kurden tief. Sie gelten als Verräter an der Revolution und Kollaborateure des Regimes. Wahrscheinlich jetzt noch mehr, nachdem die YPG die Regierung aufgefordert hat, Afrin gegen die Türkei zu verteidigen.

Für Lister scheint die von Ankara aufgebaute Nationale Armee trotz allem etwas Positives zu sein: „Es ist ein Integrationsversuch und alle beteiligten Gruppen stehen zu 100Prozent unter der Kontrolle der Türkei.“ Schließlich seien sie von ihr finanziell, militärisch und politisch abhängig. „Natürlich würde die Türkei ebenfalls Hayat Tahrir al-Sham gern integrieren, wie das mit Ahrar al-Sham getan wurde“, erklärt Lister. Aber das wird von Hayat Tahrir al-Sham, dem syrischen Ableger al-Qaidas, strikt abgelehnt. Die Frage ist, wie lang noch? Denn der Druck auf sie erhöht sich Tag für Tag, nachdem die Regimetruppen eine groß angelegte Offensive auf die Hauptbasis der Extremisten in der Provinz Idlib gestartet haben.

Wesentlich kritischere Töne gegenüber der Nationalen Armee schlägt Nicholas Heras vom Center for New American Security an. Er spricht von einer Söldnertruppe, die nur für den Zweck aufgebaut wurde, um Stellvertreterkriege für die Türkei auszufechten. Sie sollen die Ambitionen Erdoğans auf dem Schlachtfeld umsetzen. „Diese Rebellengruppen sind buchstäblich Kanonenfutter“, glaubt Heras, der amerikanische Regierungsinstitutionen sowie die US-Armee berät. „Sie tragen die Verluste, damit Leichensäcke mit türkischen Soldaten nicht das innenpolitische Standing Erdoğans untergraben.“ Momentan scheine das zu funktionieren, sagt der Militärberater. „Wie lang das so geht, muss sich zeigen.“

Nächtliche Gefechte

„Vor den Bomben der türkischen Flugzeuge gibt es kein Versteck“, klagt Cafer, der jesidische Scheich aus Afrin. „Wir haben keine Bunker.“ Die Luftangriffe seien für alle eine psychologische Belastung. Denn man wissen nie, wo und wann die nächste Bombe einschlagen werde. Mehr als 100 Tote habe es bisher gegeben, darunter viele Kinder, behauptet Cafer. Rund 30 Mitglieder der jesidischen Gemeinde sollen bisher ihr Leben verloren haben. „Einige unserer Dörfer im Grenzgebiet sind von der FSA und den Türken besetzt“, erzählt der Politiker. „Am Tag versuchen sie vorzumarschieren, aber nachts drängt sie die YPG immer wieder zurück.“ Trotz des Krieges versuche man, ein Stück Normalität zu erhalten. „Die Menschen gehen in die Arbeit, wenn es die Umstände erlauben.“

Noch hält die Verteidigung Afrins. Aber was passiert, wenn die Nationale Armee mit den FSA-Kämpfern durchbricht? Darüber macht sich der Jeside Cafer besonders Sorgen – auch wegen der Christen: Es könnte ein Massaker geben, sagt er. An Flucht denkt er nicht. „Wir bleiben. Wir lassen uns nicht vertreiben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2018)

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