Aussichtsreichster Herausforderer von Erdoğan bei der vorgezogenen Präsidentenwahl wäre sein Ex-Weggefährte Abdullah Gül. Doch tritt er an?
Istanbul. Wo betet Abdullah Gül an diesem Freitag? Die Frage ist nicht unwichtig für die Zukunft der Türkei. Der Ex-Präsident ist ein frommer Mann und besucht zum Freitagsgebet stets die Moschee. Wenn er etwas zu sagen hat, tut er dies freitags nach verrichtetem Gebet vor der Moschee, wo darum immer ein Schwarm von Reportern auf ihn wartet. Viel hat Gül nicht mehr zu sagen, seit sein alter Weggefährte Recep Tayyip Erdoğan ihn ausrangiert hat. Zuweilen merkt er milde an, dass der Ausnahmezustand endlich aufgehoben werden und die Türkei zu Demokratie und Reformen zurückkehren solle – und dass eingesperrte Journalisten freigelassen werden sollten.
Es gibt nur einen Mann in der Türkei, der das Sultanat von Erdoğan noch verhindern kann: Abdullah Gül. Demokratisierung, Frieden mit den Kurden, EU-Beitritt – das waren seine Ziele als Staatspräsident, als Ministerpräsident, als Außenminister und als Mitbegründer der AKP. Seit Erdoğan diese Ziele aus der AKP verdrängt und ihn selbst herausgedrängt hat, hat Gül sich aus der Politik zurückgezogen – und dennoch hängen die Hoffnungen von Millionen Türken an ihm.
Loyaler Parteifreund
Sollte sich der 67-jährige Gül zur Kandidatur für das Präsidentenamt am 24. Juni entschließen, könnte er die hoffnungslos zersplitterte Opposition hinter sich vereinen. Ihn würden – wenn auch mit zugehaltener Nase – sowohl Kurden als auch Kemalisten wählen, um Erdoğan zu verhindern; zudem die wachsende Zahl von AKP-Anhängern, denen Erdoğans Kurs nicht mehr geheuer ist.
Gemeinsam schafften Gül und Erdoğan einst das Unmögliche: Aus dem Stand heraus holte die von ihnen gegründete islamisch-konservative Partei AKP im November 2002 die absolute Mehrheit. Der Sieg war eine Zäsur, eine Revolution an der Wahlurne.
Diesmal müsste Gül allerdings gegen Recep Tayyip Erdoğan antreten. In seiner aktiven Zeit war Gül ein treuer Gefährte des heutigen Präsidenten. Er übernahm zunächst kommissarisch das Amt des Ministerpräsidenten und übergab es 2003, sobald Erdoğan die Hürde eines politischen Betätigungsverbots überwunden hatte. Vier Jahre später schaffte Gül als erster türkischer Präsident aus dem religiösen Lager eine Zeitenwende.
Als Präsidentschaftskandidat könnte Gül die Türkei gewissermaßen vor dem Präsidialsystem retten, das Erdoğan nun vollenden will. Der Präsident möchte sich auf Dauer zentrale Machtbefugnisse sichern und eine Ein-Mann-Regierung bilden. Alte Mitstreiter wie Gül oder den früheren Parlamentspräsidenten Bülent Arinç hat Erdoğan kaltgestellt und den Reformprozess abgewürgt.
Gül hat dem Treiben bisher zugeschaut. Kritiker halten ihn für einen Zauderer, der sich aus Furcht vor Erdoğan nicht aus der Deckung wagt. „Er ist ein Schwächling“, sagt Ahmet, ein Istanbuler Teehausbesucher. Dennoch kann kein anderer Politiker Erdoğan so gefährlich werden wie Gül.
Zerstrittene Opposition
Meral Akşener, die Chefin der neuen rechtspopulistischen Partei Iyi Parti, wildert zwar mit einigem Erfolg in der konservativen Stammwählerschaft der AKP, wird aber als knallharte Nationalistin und Ex-Innenministerin von den Kurden abgelehnt, die mehr als zehn Prozent der Wähler stellen. Selahattin Demirtaş, der charismatische Chef der Kurdenpartei HDP, sitzt wie andere Spitzenpolitiker seiner Partei im Gefängnis.
Kemal Kiliçdaroğlu, als Chef der säkularistischen Partei CHP nominell der Oppositionsführer, ist farblos. Eine Mobilisierung der Erdoğan-kritischen Wähler scheint weder mit Akşener noch mit Kiliçdaroğlu möglich – wohl aber mit Gül. „Die Iyi Parti, die CHP und die MHP sollten sich hinter Gül stellen“, meint ein kurdischer Kleinhändler aus Istanbul. „Wenn alle auf Gül setzen, dann ist es vorbei mit Erdoğan.“
Um Präsident zu werden, braucht ein Kandidat mindestens 50 Prozent der Stimmen. Erdoğan will das Ziel beim ersten Wahlgang am 24. Juni erreichen. Gül könnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen und in einer Stichwahl als gemeinsamer Kandidat der Opposition sogar die Oberhand behalten.
Antreten könnte Gül als Kandidat der kleinen islamistischen Saadet-Partei. Ironischerweise ist die Saadet die politische Nachfolgerin jener Islamistenorganisation, aus der Gül und Erdoğan vor fast 20 Jahren ausgestiegen sind, um die AKP zu gründen. Damals galt die Saadet als verknöcherter Altherrenverein, heute ist sie die rechte Reformalternative zur AKP. Saadet-Chef Temel Karamollaoğlu will demnächst mit Gül über eine Kandidatur reden. Jetzt wartet die Türkei nur noch auf ein Wort von Abdullah Gül.
ZUR PERSON
Abdullah Gül (67) war einst ein enger Weggefährte Recep Tayyip Erdoğans und gründete mit ihm gemeinsam die Partei AKP. 2007 wurde Gül zum Präsidenten der Türkei gewählt und hielt das Amt bis 2014, als Erdoğan ihn ablöste. Zum Zerwürfnis kam es, als Erdoğan die ursprünglichen Reformvorhaben aufgab und zunehmend autokratisch agierte. Dies führte zu Güls weitgehendem Rückzug aus der politischen Arbeit.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2018)