Muharrem Ince tritt für Säkularistenpartei CHP bei der Präsidentenwahl an. Damit sinken Erdoğans Chancen, schon im ersten Durchgang zu gewinnen.
Istanbul. Muharrem Ince hielt sich nicht lang mit Nettigkeiten auf. Kaum war der 54-jährige Parlamentsabgeordnete und ehemalige Lehrer am Freitag als Präsidentschaftskandidat der türkischen Säkularistenpartei CHP nominiert worden, startete er die erste Attacke auf seinen Gegner: Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Anders als Erdoğan werde er der Präsident aller Türken sein, sagte Ince – und entfernte das CHP-Parteiabzeichen von seinem Revers, um zu unterstreichen, dass er sich ab jetzt als überparteilicher Kandidat verstehe.
Auch werde er nicht in Erdoğans Tausend-Zimmer-Palast in Ankara leben, sondern den Bau in eine Schule umwandeln, versprach Ince. Wie Erdoğan selbst ist Ince ein Politiker, der den Schlagabtausch liebt und auf Angriff setzt. Vor der Präsidentschaftswahl am 24. Juni erhöht Ince so den Druck auf den sieggewohnten Staatschef.
Erdoğan sieht sich mittlerweile vier prominenten Mitbewerbern um das höchste Staatsamt gegenüber: Neben Ince sind das die Nationalistin Meral Akşener, der Islamist Temel Karamollaoğlu und der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtaş, der vom Gefängnis aus kandidiert. Mit dem redegewandten Ince hat die CHP die Möglichkeit, ihr Wählerpotenzial von 25 Prozent in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl auszuschöpfen – für Erdoğan bedeutet das, dass seine Chancen auf einen Sieg mit mehr als 50 Prozent der Stimmen im ersten Anlauf sinken. Sollte eine Stichwahl am 8. Juli nötig werden, wollen mehrere Parteien gemeinsam den stärksten Oppositionskandidaten unterstützen.
Ince gibt der seit Langem an Flügelkämpfen und der Schwäche ihres Vorsitzenden, Kemal Kiliçdaroğlu, leidenden CHP die Zuversicht zurück. Jetzt sprieße neue Hoffnung für die Demokratie, jubelte der säkularistische Kolumnist Emre Kongar in der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“. Gleich nach seiner Nominierung ging Ince zuerst zum Freitagsgebet in eine Moschee und plante anschließend einen Besuch beim letzten säkularistischen Präsidenten der Türkei, Ahmet Necdet Sezer: Er will fromme und laizistische Türken gleichermaßen ansprechen.
Wie viele in der Opposition befürchtet Ince, dass Erdoğan versuchen könnte, eine drohende Niederlage am 24. Juni mithilfe von Wahlmanipulationen abzuwenden. In seiner Antrittsrede als Kandidat rief Ince die Anwälte in der Türkei auf, sich am Wahltag bereitzuhalten, um notfalls beim Wahlleiter in Ankara intervenieren zu können.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2018)