Erdoğan sucht in der Wirtschaftskrise wieder die Nähe zu Deutschland

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Deutschlands Außenminister Heiko Maas wollte in Ankara Rechtsverletzungen „offen ansprechen“.

Istanbul. Heiko Maas kennt Senay Cinar vermutlich nicht. Doch das Schicksal der jungen Istanbuler Universitätsangestellten verdeutlicht, wie weit Deutschland und die türkische Führung bei allen Bekenntnissen zu einem Neuanfang in ihren Beziehungen auseinanderliegen. Während Maas am Mittwoch vor seiner ersten Reise als Außenminister in die Türkei die Einhaltung der Menschenrechte einforderte, musste Cinar in Istanbul vor Gericht erscheinen. Ihr wird Terrorpropaganda vorgeworfen, weil sie zusammen mit anderen Akademikern einen Appell für Frieden im Kurdengebiet unterschrieben hat. Den Angeklagten drohen mehr als sieben Jahre Haft.

Sie glaube nicht, dass der Friedensappell eine Straftat darstelle, sagte Cinar der türkischen Nachrichtenplattform Dokuz8Haber. An europäischen Vorstellungen gemessen liegt sie damit richtig, doch in der Türkei sieht das anders aus. Kritik an der Politik der Regierung wird häufig strafrechtlich geahndet.

Auch mehr als ein halbes Dutzend deutscher Bürger sitzen wegen politischer Vorwürfe in der Türkei hinter Gittern. Maas will sich in Ankara für sie einsetzen. „Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Türkei, insbesondere die Menschenrechtslage, uns Sorgen bereitet und unsere Beziehungen überschattet“, erklärte der Minister. „Davon zeugen nicht zuletzt die nach wie vor zahlreichen Haftfälle. Diese Themen werde ich offen ansprechen.“

In der türkischen Hauptstadt wollte sich Maas dennoch um einen Neuanfang in den krisengeplagten deutsch-türkischen Beziehungen bemühen. „Es ist für Deutschland von strategischem Interesse, dass wir unsere Beziehungen zur Türkei konstruktiv gestalten“, betonte er. „Die Türkei ist mehr als ein großer Nachbar, sie ist auch ein wichtiger Partner Deutschlands.“

Umgekehrt sucht die Türkei derzeit wegen des heftigen Streits mit den USA und des eskalierenden Konflikts im Nachbarland Syrien wieder die Nähe zu Europa und besonders zu den Deutschen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der Maas am Mittwochabend in Ankara empfangen wollte, hofft auf europäische Hilfe zur Bekämpfung der derzeitigen Finanzkrise.

Gleichzeitig zählt Ankara auf das europäische Interesse daran, eine neue Fluchtwelle aus Syrien zu vermeiden. Aktuell geht es darum, eine syrische Regierungsoffensive auf die Provinz Idlib zu verhindern oder zumindest zu begrenzen. Ein Ansturm von Hunderttausenden Hilfesuchenden aus Idlib auf die Türkei könnte sich wie im Krisenjahr 2015 bis nach Europa fortsetzen, warnte der Erdoğan-Vertraute Yalçin Akdoğan: „Wenn Idlib zusammenbricht, bricht auch Europa zusammen“, schrieb Akdoğan in der Zeitung „Star“.

Der Besuch von Maas sollte Aufschluss darüber geben, inwieweit sich die türkische Führung von europäischen Appellen in Sachen Rechtsstaat und Menschenrechte beeindrucken lässt. Bisher hat Erdoğan jede Kritik am Druck auf Andersdenkende zurückgewiesen. Die EU verstehe einfach nicht, dass sich die Türkei nach dem vereitelten Coup von 2016 vor neuen Umsturzversuchen schützen müsse, lautet das Argument. Vergeblich fordert Ankara von den Deutschen und anderen EU-Mitgliedern die Auslieferung mutmaßlicher Anhänger der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird.

Ende September Erdoğan in Berlin

Maas unterstrich, die Türkei müsse „liefern“, bevor über europäische Finanzhilfe gesprochen werden könne. Bei dem Besuch sollte ausgelotet werden, ob Erdoğan bereit ist, auf deutsche Forderungen einzugehen. Die Freilassung inhaftierter Bundesbürger ist möglich, feste Zusagen der Türkei zur Ausweitung der Bürgerrechte sind dagegen unwahrscheinlich.

Ohnehin konnte der Besuch von Maas höchstens ein erster Schritt bei der Normalisierung der Beziehungen sein. Seine Visite war Auftakt einer Reihe von geplanten deutsch-türkischen Regierungskontakten. Am 28. September wird Erdoğan zu einem Staatsbesuch in Berlin erwartet. Der türkische Präsident ließ jetzt im Gespräch mit Reportern auf dem Rückweg von einer Auslandsreise erkennen, dass er große Hoffnungen in das Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt. Er werde Merkel in Berlin nicht nur zu einem Mittagessen treffen, sondern an einem anderen Besuchstag auch bei einem Arbeitsfrühstück, das zeitlich nicht begrenzt sei, betonte Erdoğan. „Wir werden Gelegenheit haben, viele Themen im direkten Gespräch zu erörtern“, sagte der Präsident. „Ich messe diesem Besuch große Bedeutung bei.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2018)

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