Lateinamerikas Nagelprobe durch den Exodus aus Venezuela

Venezuelaner in Kolumbien.
Venezuelaner in Kolumbien. (c) APA/AFP/SCHNEYDER MENDOZA (SCHNEYDER MENDOZA)
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Die Fluchtwelle aus dem verarmten Ölstaat dürfte 2019 auf dem Kontinent Spannungen schüren.

Bogotá/Caracas/Santiago. Die Absetzbewegung von Venezolanern in andere Staaten Lateinamerikas sowie der Karibik dürfte sich 2019 verstärken und vielerorts zu schweren sozialen, wirtschaftlichen und sicherheitsrelevanten Problemen führen – das ist die Quintessenz der Einschätzungen der UN sowie lokaler und internationaler Beobachter, darunter der Norwegischen Flüchtlingshilfe (NRC).

Seit 2015 sollen mindestens 3,3 Millionen Venezolaner ihr Land verlassen haben, das seit Ende der 1990er von einem linkspopulistischen bolivarischen Regime in ökonomische Katastrophe, Massenarmut und Quasidiktatur geführt wurde. Da Venezuelas Bevölkerung heuer auf noch ca. 32 Mio. Menschen geschätzt wurde, sind seit 2015 schon fast zehn Prozent der Bürger ausgewandert. 2019 dürften dem laut UN mindestens zwei Millionen folgen, sofern und solang man die Abwanderungsströme nicht eindämmen kann oder sich Grundsätzliches im Land tut, wie ein Umsturz.

Die Massenmigration – aktuell sollen es mindestens 5000 Menschen am Tag sein – führt großteils in Zielländer in der Region und stellt so ziemlich den größten Exodus in Lateinamerikas moderner Geschichte dar. Die meisten Menschen gehen dabei zu Fuß, mit wenig Gepäck, und nicht nur ins relativ wohlhabende Nachbarland Kolumbien, sondern über weite Strecken bis hinunter nach Chile und Argentinien.

Die Stimmung schlägt um

Aktuell, so lässt sich nur schätzen, hat es in Lateinamerika mindestens eine Million Venezolaner nach Kolumbien verschlagen, eine halbe Million nach Peru, 220.000 nach Ecuador, 130.000 nach Argentinien, mehr als 80.000 nach Brasilien. Zehntausende haben es auf karibische Inseln geschafft, darunter niederländische Außenlande wie Aruba, Bonaire und Curaçao, viele weitere nach Mexiko, Mittelamerika (Panama spricht von 100.000). Selbst ins wenig entwickelte Nachbarland Guyana flohen Venezolaner vor der Armut in ihrem einst wohlhabenden Ölstaat.

Doch die Züge sorgen spätestens seit heuer für wachsende Unruhe in den Zielländern auf offizieller wie gesellschaftlicher Ebene. Zwar fühlen sich speziell in Kolumbien viele moralisch schuldig, Venezolanern zu helfen, weil viele Kolumbianer zu Zeiten des Bürgerkriegs dort nach Venezuela gezogen sind. Zwar herrsche in Lateinamerika „ein bewundernswerter Sinn für Solidarität“, wie Jan Egeland, Generalsekretär von NRC, konstatiert, ja seien sogar die Grenzen noch weitgehend offen. Dennoch gebe es Anzeichen für eine Abkühlung der Solidarität, nicht zuletzt, weil die meisten Zielländer selbst reichlich Probleme haben, nicht zuletzt bei der Armut. „Es gibt auch fast keine adäquaten Hilfsprogramme“, so Egeland. Letztlich wüchsen die Spannungen zwischen Ankömmlingen und Gastgebern.

In Kolumbien klagt man über ausufernde illegale Migrantensiedlungen, Bettelei, Kleinkriminalität, überlastete Öffis, Spitäler, Schulen und Polizei. Angriffe auf Venezolaner nehmen zu. Die Regierung rechnet vor, die Krise koste das Land pro Jahr ein halbes Prozent des BIPs oder umgerechnet 1,3 Milliarden Euro.

Gewalt flammt immer wieder in Brasilien auf, wo sogar Zelte angezündet wurden. Die Stimmung verdüsterte sich in Ecuador, wo die Regierung um Finanzhilfe wegen migrationsinduzierter Kosten von umgerechnet 500 Mio. Euro bat.

Chile blieb UN-Migrationspakt fern

Aus Chile, Südamerikas wohlhabendstem Land, hieß es, dass sich die Slums seit 2011 um fast 80 Prozent vergrößert hätten – vor allem wegen Haitianern und Venezolanern. Sie umfassten momentan mehr als 46.000 Haushalte, von denen nur zehn Prozent sauberes Wasser hätten, und mit nicht immer klarer Einwohnerzahl. Venezolaner seien seit 2015 sogar die größte Fremdengruppe geworden, allein von Jänner bis Juli 2018 seien über 147.000 gekommen (die UNO spricht indes von mehr als 100.000). Chile hat jüngst den UN-Migrationspakt ausdrücklich auch infolge dieser Vorgänge nicht unterschrieben.

Auch die schlechten Beziehungen zwischen Venezuelas Regierung und den meisten anderen Staaten machen einen regionalen Plan, wie dem Exodus zu begegnen sei, unwahrscheinlich. Wobei zudem neue Migrationskarawanen dazugekommen sind: von Mittelamerika über Mexiko in Richtung USA. Und aus Nicaragua, wo die Linksregierung von Daniel Ortega hart gegen die Opposition vorgeht. Zehntausende flohen heuer deswegen vor allem nach Costa Rica. (wg/ag.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2018)

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