Brexit-Kehrtwende: May pfeift auf die Einheit der Tories

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Premierministerin May will eine neue Brexit-Verlängerung, Gespräche mit der Opposition und dem Willen des Parlaments folgen.

In einem scheinbar radikalen Kurswechsel hat die britische Premierministerin Theresa May einen harten Brexit über Bord geworfen und eine neuerliche Verlängerung des Austritts ihres Landes aus der EU in Aussicht gestellt. „Ein Austritt mit einem Deal ist die beste Lösung“, sagte sie gestern, Dienstagabend, in London. „Daher werden wir eine weitere Verlängerung des Artikel 50 (der den Austrittsprozess regelt, Anm.) brauchen.“ Sie bot Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour Party sofortige Gespräche an, „um eine Übereinkunft zu finden.“ Sollte dies scheitern, werde man dem Parlament eine Reihe von Vorschlägen zur Entscheidung vorlegen.

May machte klar, dass eine Vereinbarung mit der Opposition nur auf Grundlage des bestehenden Abkommens mit der EU getroffen werden könne. „Auf diesen Vertrag haben wir uns mit 27 anderen Staaten geeinigt, und die EU hat wiederholt erklärt, dass es keine Neuverhandlungen geben kann.“ Zudem betonte sie, dass eine neuerliche Verlängerung „so kurz wie möglich sein soll und mit einer Vereinbarung enden soll.“ Als Zieldatum nannte sie den 22. Mai, ein Tag vor Beginn der Wahlen zum Europaparlament, an denen die britische Regierungschefin nicht mehr teilnehmen will.

"Lasst uns Geduld haben"

Oppositionschef Corbyn antwortete auf die Einladung May, er sei „sehr gerne“ zu einem Gespräch mit der Premierministerin bereit. „Ich anerkenne, dass sie sich bewegt hat, und ich anerkenne auch meine Verantwortung“, erklärte er. EU-Ratspräsident Donald Tusk rief die Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft auf: „Was immer nun passiert, lasst uns Geduld haben.“ Vor der Ankündigung Mays hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron bei einem Besuch in Dublin erklärt, die EU werde sich „von der politische Krise in Großbritannien nicht in Geiselhaft nehmen lassen“.

Auch wenn Labour umgehend Gesprächsbereitschaft bekundete, blieb vorerst Skepsis über das Manöver der Premierministerin. „Wenn sie es ehrlich meint“, meinte etwa der Vorsitzende des Brexit-Ausschuss im Parlament, der Labour-Abgeordnete Hilary Benn, „werde man selbstverständlich ernst Gespräche führen“. Sollte dies der Fall sein, ist May gestern tatsächlich gleich mehrfach über ihren Schatten gesprungen: Nicht nur hat sie einmal mehr ihre Position geändert, sie hat sich erstmal offenbar gegen die Hardliner in ihrer konservativen Partei gestellt.

Dass dies keine leichte Entscheidung gewesen war, deutet allein die Länge der gestrigen Kabinettssitzung hin, die mehr als sieben Stunden dauerte. Obwohl vorerst kein Minister zu einer Stellungnahme bereit war, wurde mit Rücktritten gerechnet. Insbesondere Parlamentsministerin Andrea Leadsom und Verteidigungsminister Gavin Williamson sollen sich vehement für einen harten Kurs ausgesprochen haben. Immer noch gilt, dass Großbritannien entweder am 12. April ohne Deal aus der EU ausscheidet oder von der EU eine neuerliche Verlängerung bekommt. Die Union kommt in einer Woche zu einem Sondergipfel zusammen.

Welche Lösungsvorschläge nun möglich sein werden, blieb vorerst ungewiss. Mays Deal sieht einen Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion vor und ist – nicht nur, aber maßgeblich – an der Auffanglösung für Nordirland gescheitert. Eine neue Volksabstimmung lehnte May bisher kategorisch ab. Demgegenüber ist die aktuelle Position der Labour Party: Verbleib in der Zollunion, möglichste enge Anbindung an den Binnenmarkt (de facto will die Partei alles außer der Personenfreizügigkeit) und schließlich eine Bestätigung des Verhandlungsergebnisses durch ein neues Referendum.

Zwölf Varianten in zwei Abstimmungen verworfen

Eine Annäherung wird hier schwer sein, und bis zum 22. Mai vermutlich sogar unmöglich. Von großer Bedeutung könnte hier die Ankündigung May sein, dass sie sich im Falle eines Scheiterns der Gespräche mit der Opposition vom Willen des Parlaments leiten lassen werde. Das Unterhaus hat in bisher zwei Abstimmungsrunden insgesamt 12 Varianten verworfen. Allerdings scheiterte ein Verbleib in der Zollunion Montagnacht um nur drei Stimmen, während May mit ihrem Deal zuletzt immer noch mit 58 Stimmen durchfiel.

Gefragt wird nun sein, was bisher vor allem auf Seiten der Konservativen weitgehend fehlte: „Ich bin daran gescheitert, dass meine Partei zu keinerlei Kompromiss bereit war“, erklärte Montagnacht der Konservative Nicholas Boles, der sich wochenlang um eine parteienübergreifende Position bemüht hatte, in einer emotionalen Rede bei seinem Austritt aus der Tory-Fraktion.

Wie sich die Stimmung in wenigen Stunden Dienstagabend wandelte, wurde auch aus Wortmeldungen der konservativen Hardliner klar. Nachdem sich Ex-Außenminister Boris Johnson schon als Premier im Wartestand präsentiert hatte, wurde nun Gift und Galle gespuckt: „Dieser Versuch wird keinen Erfolg haben“, kündigte der Abgeordnete Jacob Rees-Mogg an. Corbyn sei ein „ausgewiesener Marxist“, mit Stimmen der Opposition könne man keine Regierungspolitik machen: „Das ist eine zutiefst unbefriedigende Vorgangsweise“.

Schon heute, Mittwoch, geht sie weiter: Nach der Fragestunde der Premierministerin wird im Unterhaus weiter über den Brexit debattiert. Man durfte gespannt sein, welcher Antrag zur Vorlage kommen würde.

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