Der Brexit über allem: Niederlage für die beiden Großparteien, Liberaldemokraten legen deutlich zu.
London. Normalerweise geht es bei Lokalwahlen um Straßenbeleuchtung, Hundekot und die Gelegenheit, den Regierenden einen Denkzettel zu verpassen. Die Wahlen in weiten Teilen Englands und Nordirlands am Donnerstag waren hingegen von dem einzigen Thema überschattet, das die Nation seit Monaten zerreißt: dem Brexit. Beide Großparteien – die regierenden Konservativen ebenso wie die oppositionelle Labour Party – erhielten von den Wählern schallende Ohrfeigen.
Neu gewählt wurden 248 Gemeinderäte in England, sechs Bürgermeister und elf Bezirksvertretungen in Nordirland. Nach Auszählung fast aller Stimmen verloren die Tories mehr als 1200 Mandate und zugleich die Kontrolle über dutzende Bezirksverwaltungen. Auch Labour muss sich mit Verlusten abfinden, allerdings fallen sie deutlich moderater aus: Die Partei von Jeremy Corbyn verzeichnete am Freitagabend ein Minus von 81 Sitzen und musste mehrere Bezirksverwaltungen aus der Hand geben.
In seltener Übereinstimmung erklärte Premierministerin Theresa May, die Botschaft der Wähler sei gewesen: „Bringt es endlich zu Ende und setzt den Brexit um“, während für Labour-Finanzsprecher John McDonnell die Nachricht lautete: „Bringt die Sache mit dem Brexit in Ordnung.“
In welcher Form, darüber scheiden sich allerdings weiterhin die Geister. Die Liberaldemokraten, mit Zugewinnen von vorerst 300 Sitzen die großen Gewinner der Lokalwahlen, erklärten: „Jede Stimme für uns ist eine Stimme gegen den Brexit“, wie Parteichef Vince Cable sagte. Die Partei konnte sich auch über symbolische Erfolge freuen, so übernahm sie etwa in Bath, Winchester und North Norfolk die Mehrheit in den Gemeindevertretungen.
Großparteien rauben einander Stimmen
Zwischen den beiden Großparteien hingegen kam es zu einem regelrechten Schlagabtausch: Die Konservativen schnitten im Norden besser ab als erwartet, im Kernland von Labour, während umgekehrt im Süden, der normalerweise von den Tories dominiert wird, die Linke über den Erwartungen lag. Labour verlor eine Hochburg wie Hartlepool im Nordosten, gewann aber den Vorort Trafford von den Konservativen. Beide Parteichefs räumten Enttäuschung ein: „Das Ergebnis ist schwer zu akzeptieren“, sagte May für die Konservativen, während Labour-Chef Jeremy Corbyn meinte: „Natürlich wollten wir besser abschneiden.“
Die Konservativen, die bei den letzten Lokalwahlen 2015 mit 60 Prozent der mehr als 8400 Sitze einen historischen Höchststand hatten erreichen können, stapelten seit Wochen tief. An den Haustüren der Wähler versuchten ihre Kandidaten, peinlichst das B-Word zu vermeiden – meist vergeblich. Wayne Fitzgerald aus Peterborough in Ostengland: „Ich habe zu den Wählern gesagt: Lasst uns das ausklammern, denn ich kenne und teile eure Enttäuschung.“
Die oppositionelle Labour Party hatte hingegen zumindest eine Stabilisierung ihrer 25 Prozent aus der Wahl 2015 erhofft, offensichtlich vergeblich. Die Schlüsse daraus fielen freilich unterschiedlich aus. Die Abgeordnete Jess Philipps kommentierte: „Unsere Position ist nicht mehr länger haltbar.“ Dagegen bekräftigte Corbyn den Versuch, es allen recht machen zu wollen: „Wir sind die einzige Partei, die für alle Wähler da ist, unabhängig von ihrer Entscheidung 2016.“
Dabei dachte er bereits an die EU-Wahlen am 23. Mai. Sollte Großbritannien teilnehmen, droht den Großparteien eine noch herbere Niederlage. Dann werden die EU-Befürworter und -Gegner mit eigenen Parteien ins Rennen gehen, und bereits jetzt liegt die Brexit Party von Nigel Farage voran. Während Wahlforscher John Curtice das Ergebnis der Lokalwahl mit dem Shakespeare-Zitat „Zum Teufel beider Sippschaft“ bewertete, meinte er für die EU-Wahl: „Wir werden mehr als zwei oder drei politische Akteure haben.“ Diese seien eine „Spiegelung der am tiefsten gespaltenen Wählerschaft seit Beginn der britischen Massendemokratie“.
Diese Fragmentierung reicht nicht nur tief, sie verläuft auch jenseits der traditionellen Trennlinie: Nie waren der arme Norden und der reiche Süden Englands weiter von einander entfernt. Und nie waren die Gräben unüberbrückbarer. In den Parteigesprächen zum Brexit gibt es weiter keine Fortschritte. Premierministerin May fehlt die Autorität für einen großen Wurf. Bei der Eröffnung einer Parteitagung in Wales empfing sie am Freitag ein Ruf aus dem Publikum: „Warum treten Sie nicht endlich zurück? Wir wollen Sie hier nicht mehr.“ Und Labour-Chef Corbyn hat für einen großen Kompromiss keinen Willen: „Das Tory-Chaos im Umgang mit dem Brexit überschattet alles“, sagte er.
LOKALWAHLEN GROSSBRITANNIEN
Umbruch. 248 Gemeinderäte in England, sechs Bürgermeister und elf Bezirksvertretungen in Nordirland wurden am Donnerstag in Großbritannien gewählt. Das Ergebnis wurde von der endlosen Brexit-Debatte überschattet und stellte eine herbe Niederlage für die Großparteien dar. Nach Auszählung von mehr als der Hälfte aller Stimmen hatten die Konservativen gestern, Freitag, bereits mehr als 500 Sitze verloren, während Labour über 70 Gemeinderäte eingebüßt hatte. Die Liberaldemokraten waren vorerst mit 300 Sitzen die großen Gewinner.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2019)