"Die Frage war: Freisein oder Nichtfreisein"

Frage Freisein oder Nichtfreisein
Frage Freisein oder Nichtfreisein(c) APA/ELTA (ELTA)
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Der Fall Golowatow trifft die Litauer ins Mark, weil der Ex-KGB-Mann verdächtigt wird, die Balten beinahe um etwas gebracht zu haben, wofür sie so hart kämpften: Ihre Unabhängigkeit. Eine Spurensuche.

Wenn sich Albinas Kentra an die kalten Jännertage des Jahres 1991 erinnert, dann ist das Bild vor seinem inneren Auge klar. „Die Frage war: Freisein oder Nichtfreisein“, sagt er. Der heute 82-Jährige war damals im – wie er es ausdrückt – „Auftrag meines Gewissens“ tage- und nächtelang mit seiner Kamera unterwegs, um das Geschehen auf den Straßen von Vilnius auf Video festzuhalten. Seine Berichte wurden von vielen internationalen TV-Stationen gesendet

Heute zeigt Albinas Kentra Interessierten einen einstündigen Zusammenschnitt seiner Videos von den dramatischen Höhepunkten jener Ereignisse, die am 8. Jänner begannen, als sowjetische Soldaten am Parlament mit Wasserwerfern abgewehrt wurden. In der Folge umstellten tausende Litauer unbewaffnet das Parlamentsgebäude, sangen, tanzten und beteten über zwei Wochen lang bei Wind und Schnee. Knapp ein Jahr zuvor, am 11.März 1990, hatte Litauen seine Unabhängigkeit erklärt. Die Sowjets weigerten sich, diesen Schritt anzuerkennen.


Soldaten, fast noch Kinder.
Drei Tage nach dem 8. Jänner stürmten Sowjetsoldaten mittags das Pressehaus. Und Albinas Kentra lieferte Gänsehautbilder: sowjetische Soldaten, fast noch Buben, mit dem Finger am Abzug ihres Sturmgewehres, einen halben Meter entfernt singende, Fahnen schwingende Litauerinnen und Litauer, die auch nicht verstummten, als über ihre Köpfe hinweg geschossen wurde. „Wir waren doch im Recht, warum sollten wir weglaufen?“ Angst hatte der ehemalige Gulag-Insasse nicht: „Ich habe den Soldaten einfach in die Augen geschaut.“

Gab es beim Pressezentrum einige Verletzte, so bezahlten in der Nacht zum 13. Jänner bei der Erstürmung des Fernsehturms durch Sowjettruppen gemeinsam mit der KGB-Sondereinheit „Alpha“ 14 Zivilisten – die meisten um die 20 Jahre alt – ihren Freiheitswillen mit dem Leben. „Es besteht kein Zweifel über die Identität des Alpha-Kommandanten: Michail Golowatow. Diese Ereignisse sind sehr gut dokumentiert“, sagt der Historiker Alvydas Nikžentaitis. Heute noch erinnern in Vilnius nach den Toten benannte Straßen an den „Blutsonntag“. Viele der mehr als 1000 Personen, die verletzt wurden, als sie sich den Panzern entgegenstellten, leiden heute noch an Folgeschäden.

Unter dem Panzer.
So auch die heute 58-jährige Angelė Pladytė, die mit zwei anderen Frauen unter einen Panzer kam. In sechs Operationen wurde ihr linkes zerquetschtes Bein zusammengeflickt, trotzdem kann sie kaum gehen. Sie hat mit einer Schicksalsgefährtin überlebt. Die 23-jährige Loreta Asanavičiūtė starb wenige Stunden später im Spital.

„Ich habe damals in der Nähe des Fernsehturms gewohnt. Als ich Schüsse hörte, bin ich mit meinem Nachbarn zum Turm gelaufen“, erzählt Pladytė. Dann wurde sie mit zwei Frauen durch die Druckwelle eines Panzergeschosses zu Boden geschleudert. „Plötzlich war der Panzer auf uns.“ Trotz Schmerzen und Frührente würde Angelė Pladytė heute wieder so handeln. „Freiheit ist für uns etwas ganz Kostbares. Das sowjetische Joch hatte uns geistig und physisch zu Invaliden gemacht.“ Den aktuellen „Fall Golowatow“ kommentiert die 58-Jährige knapp: „Russland hat schon immer seine Spione gerettet.“

Am 14. Jänner errichteten Zivilisten in den Morgenstunden Barrikaden um das Parlamentsgebäude – weiterhin singend, tanzend, betend. Pfarrer Robertas Grigas, heute Caritas-Direktor, zelebrierte vor dem Parlament Messen: „Lasst uns beten auch für unsere Peiniger und für das Recht, unsere Heimat lieben zu dürfen“, rief er damals. Albinas Kentras Video endet mit dem Begräbnis der Opfer, die mit einer Ausnahme alle am Vilniusser Antakalnisfriedhof beigesetzt wurden. Staatsbesucher legen hier zum Gedenken Blumen nieder.

Schutz des Parlaments.
In Litauen gibt es kaum eine Familie, die nicht in die Jännerereignisse involviert war. „Ich war krank und in einem Spital. Die Ärzte verbrachten ihre ,Freizeit‘ beim Fernsehturm, und wir Patienten sorgten dafür, dass sie während ihrer Arbeitszeit schlafen konnten“, erinnert sich die Übersetzerin Austėja Merkevičiūtė (52). Historiker Nikžentaitis schätzt, dass einige hunderttausend Litauer aktiv waren, da in allen größeren Städten die neuralgischen Gebäude beschützt wurden. Zudem kamen Menschen aus ganz Litauen, um insbesondere das Parlament in der Hauptstadt zu sichern.

Auch für „Freiheitskinder“, wie sich Evaldas Rupkus, Jahrgang 1991, selbst bezeichnet, ist das Jännergeschehen von zentraler Bedeutung: „An meinem diesjährigen Geburtstag war ich beim Fernsehturm, ich musste weinen. Ich verspürte ein so elementares Gefühl von Freiheit.“ Evaldas Rupkus arbeitet in der Dachorganisation der litauischen Jugendvereine, deren Büro sich in den ehemaligen Räumlichkeiten der österreichischen Botschaft in der Vilniusser Altstadt befindet. „Wir werden jetzt aber nicht übersiedeln“, lacht er. „Die Causa Golowatow ist eine politische Angelegenheit mit Österreich. Litauen ist der Verlierer, Russland der Gewinner.“ Rupkus wünscht sich etwas von Österreich, das viele hier vermisst haben: Die österreichische Politik, sagt er, hätte mehr auf die „historischen Dimensionen“ achten müssen. An längerfristige negative Auswirkungen in den Beziehungen zu Österreich glaubt er aber nicht.

Ende nach 222 Tagen. Ein halbes Jahrhundert war Litauen, ein Land, in dem laut des Französischen Geografischen Institutes nahe Vilnius der geografische Mittelpunkt Europas liegt, von der europäischen Landkarte verschwunden. „Für uns ist der Zweite Weltkrieg erst 1991 zu Ende gegangen“, sagt der Videofilmer Albinas Kentra. Die sowjetische Besetzung des Vilniusser Fernsehturmes endete nach 222 Tagen am 23. August 1991, dem Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes.

Die Litauer, sagt Kentra, hätten gar keine andere Wahl gehabt, als gegen die Enthaftung Golowatows ihre Stimme zu erheben: „Würden wir nicht gegen die Freilassung Michail Golowatows protestieren, wäre mit unserer Moral etwas nicht in Ordnung.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2011)

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