Beitritt: "Türkei soll sich von EU-Ziel befreien"

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Symbolbild(c) EPA (Matthias Schrader)
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Erstmals öffnet sich in der EU-Frage ein tiefer Riss in der türkischen Führung. Was bisher Drohgebärden waren, soll laut Ansicht einiger Politiker Realität werden. Ein neuer Weg ohne EU.

ISTANBUL. Traditionell basiert die türkische Europapolitik auf einem Ziel: Das Land soll fit für den EU-Beitritt gemacht werden. Doch jetzt zeigen sich immer mehr Risse innerhalb der Führung des Lands. Staatspräsident Abdullah Gül ruft dazu auf, weiterhin alle neuen Gesetze der EU fleißig in türkisches Recht zu übertragen und die innere Entwicklung der Union genau zu beobachten. Doch einige Mitglieder der Regierung in Ankara winken ab. Sie sprechen inzwischen offen von der Möglichkeit, dass die Türkei niemals zur EU gehören wird.

Am Rande der UN-Vollversammlung in New York betonte Gül diese Woche die Bedeutung der EU als Reform-Motor für Ankara. Die EU werde sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren sehr verändern und sich vielleicht eine ganz neue Struktur geben, sagte Gül mit Blick auf die Debatte über ein Kerneuropa mit Euro und einen äußeren Ring von Mitgliedstaaten ohne die gemeinsame Währung. Der Präsident hofft, dass die Türkei mit anderen Ländern eines Tages zumindest diesen äußeren Ring von EU-Staaten bilden kann.

Einige Regierungspolitiker betonen dagegen die gewachsene Bedeutung der Türkei als Regionalmacht. Yiğit Bulut, ein Berater von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, schrieb diese Woche in einem Zeitungsbeitrag, die Türkei solle sich von den „EU-Szenarien befreien“ und die Europabewerbung aufgeben. Die Türkei könne in Zentralasien, Nahost und Afrika „in neuen Modellen erfolgreich sein“. EU-Minister Egemen Bağiş sagte kürzlich, die EU brauche die Türkei mehr als umgekehrt.

„So wie Norwegen“

Am vergangenen Wochenende ging Bağiş noch einen Schritt weiter. Die Türkei werde vorerst bei ihrer EU-Bewerbung bleiben, doch die Vorurteile der EU-Staaten machten den Beitrittsprozess so schwierig, dass die Türkei womöglich nie aufgenommen werde. „Ich glaube, dass es wahrscheinlicher ist, dass sie auf lange Sicht ein Land sein wird, das enge Beziehungen zur EU hat, ohne Mitglied zu sein, so wie Norwegen.“

Der Vergleich mit dem reichen skandinavischen Land, das einen EU-Beitritt ablehnt, aber in vielen Bereichen wie dem Binnenmarkt sehr eng mit der Union verknüpft ist, kommt nicht von ungefähr. Bağiş betrachtet auch die Türkei als Nation, die der EU auf Augenhöhe begegnen kann, nicht als Antragsteller. Bağiş kritisierte denn auch die Ablehnung einer Visumsfreiheit für Türken durch den Europäischen Gerichtshof in der vergangenen Woche.

Viel Druck der Wähler für eine weitere Annäherung an die EU spürt die türkische Regierung nicht. In der Bevölkerung ist die Unterstützung für das Ziel der EU-Mitgliedschaft weiter gesunken. Laut einer neuen Umfrage des German Marshall Fund liegt die Europa-Begeisterung der Türken bei 44 Prozent – im Jahr 2004 waren es noch 73 Prozent. Im selben Zeitraum wuchs der Anteil der Gegner eines EU-Beitritts in der Türkei von neun auf 34 Prozent.

Manche Beobachter erfüllt diese Entwicklung mit Sorge. In der türkischen Führung gebe es zwei Lager, sagt der Istanbuler Politologe und EU-Experte Cengiz Aktar: eines, dessen Mitglieder die Union weiter als wichtigen „Anker“ für das Land betrachten und eines, dessen Anhänger „von einer Supermacht Türkei träumen, die nicht existiert“. Das eine Lager sei „rational“, das andere „halluziniert“, wie Aktar der „Presse“ sagte. Er begrüßte die Parteinahme von Staatspräsident Gül für die Europa-Anhänger.

Der Graben innerhalb der Führung wird laut Aktar vorerst weiter bestehen bleiben, doch EU-Befürworter fordern, ein neuer Reformprozess zugunsten der EU-Bewerbung müsse schon jetzt beginnen. Nur wenn die Türkei ihre Demokratie und ihren Rechtsstaat stärke, könne sie in Brüssel auf Fortschritte hoffen, sagte der frühere Botschafter der Türkei in Deutschland, Volkan Vural, diese Woche bei einer Podiumsdiskussion der Istanbuler Kadir-Has-Universität.

AUF EINEN BLICK

EU-Beitritt. Die türkischen Beitrittsverhandlungen sind seit Jahren blockiert. Grund ist die Nichtanerkennung der Republik Zyperns durch Ankara. Staatspräsident Gül hat sich dafür ausgesprochen, die Gesetze des Lands dennoch weiterhin an EU-Recht anzupassen. Doch in Regierungskreisen wächst nun der Widerstand. Ein Beitritt wird als unrealistisch bezeichnet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2013)

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