„Die EZB ist als Institution ein Erfolg“

Interview. Der deutsche Ökonom Guntram Wolff von der Ideenschmiede Bruegel wünscht sich, dass Europas Zentralbank künftig mehr der Federal Reserve ähnelt.

Die Presse: Gäbe es die Europäische Zentralbank nicht, und müsste man sie heute auf dem Reißbrett neu entwerfen: was würden Sie anders machen?

Guntram Wolff: Was ich gut finde, ist: wir haben eine Währungsunion geschaffen, die aus sehr unterschiedlichen Ländern besteht. Mit der EZB hat man von Anfang an eine zentrale Institution mit sechs Stimmen im Gouverneursrat, in dem nicht nur die Notenbankgouverneure wählen. Die sind zwar im strikten Sinne nicht Repräsentanten ihrer Länder, aber natürlich hat ein Jens Weidmann dort auch eine deutsche Stimme. Man hat in der EZB also eine Mischung aus Stimmen einer zentralen Institution, welche die geldpolitische Agenda setzt, und nationalen Stimmen. Wenn ich nachdenke, wo könnte es in 20 Jahren hingehen, könnte es sinnvoll sein, den nationalen Gouverneuren mehr und mehr Stimmen wegzunehmen. So würde man etwas erhalten, das dem Federal Reserve System ähnelt.

Wieso ist das wichtig?

Weil wir im Gouverneursrat unterschiedliche Meinungen brauchen. Nur so kann man auch konstruktive Debatten führen und gute Entscheidungen fällen. Aber das müssen nicht 19 Gouverneure sein, die da still abstimmen. Das könnten auch 15 oder 10 sein. Aber ansonsten denke ich, die EZB ist eine sehr gelungene Institution, die von Anfang sehr gut funktioniert hat, von Tag eins mit der Einführung des Euro an. Insofern ist die EZB als Institution ein Erfolg.

Sie ist aber auch mit dem Ausbrechen der Finanzkrise im Jahr 2008 und der Entzündung der Eurokrise zum Fokus für wirtschaftspolitische Unvereinbarkeiten geworden in Europa. Wie schafft man es, sie in so stürmischen Zeiten aus den politischen Gefechten herauszuhalten?

Gar nicht. Die EZB wird immer im Zentrum der wirtschaftspolitischen Diskussionen sein. Ich denke, hinter Ihrer Frage steht eine tiefer greifende: war die Zusammensetzung des Euro, so, wie er geschaffen wurde, richtig? Oder war die Heterogenität der Länder zu groß? Ich glaube, man kann schon sagen, dass es ein Fehler war, dass Griechenland dem Euro beigetreten ist. Griechenland war nicht dafür bereit. Die Spannungen, die sich daraus entfaltet haben, sind nicht die Schuld der EZB, sondern die Schuld einer Währungsunion, in der die wirtschaftlichen und institutionellen Unterschiede zwischen, zum Beispiel Finnland und Griechenland, zu groß sind. Das heißt aber nicht, Griechenland solle aus dem Euro austreten. Das wäre ein schwerer Fehler. Denn wenn man einmal drin ist, muss man irgendwie drin bleiben.

Wie im „Hotel California“, aus dem man auschecken, aber nie abreisen kann.

Genau. Denn wenn man austritt, verändert sich die Dynamik der Währungsunion, und das wäre sehr schädlich für alle. Die Heterogenität unterhalb der Mitglieder ist aber auch aus anderen Faktoren in der Anfangsphase des Euro stark gestiegen. Wir hatten damals weltwirtschaftlich die „Great Moderation“, also jene ruhige Phase, wo Risiken auf den globalen Finanzmärkten nicht bepreist wurden. Das hat stark dazu beigetragen, dass in der Eurozone die Divergenzen gestiegen sind. Die Kapitalflüsse in den Süden Europas, die teils nur sehr unproduktiv genutzt wurden, waren nicht nur die Schuld des Euro, der die Zinsen stark gesenkt hat.

Wie sieht das heute aus?

Mittlerweile haben wir die Hausaufgaben gemacht. Spanien wächst stark, Irland ist eine Erfolgsgeschichte. Und wir sehen mittlerweile, dass Risiken wieder unterschiedlich bepreist werden. Das brauchen wir. Diese Zinsunterschiede dürfen nicht zu groß sein, aber ihre Abwesenheit ist ein Fehler. Wir haben jetzt stärkeres Risikobewusstsein, aber dennoch stärkeres Wachstum, auch in den Ländern, die schlechter aufgestellt sind. Insgesamt ist die Eurozone derzeit also in einer deutlich besseren Konstitution.

Die EZB hat unter enormem Einsatz und Ausreizung ihres Mandats dazu beigetragen, dass die Eurozone aus der Krise kam. Aber nun wird ihr die Schuld daran gegeben, dass die Inflation nicht wie erwartet anzieht.

Ich würde sagen, dass die EZB einen guten Job gemacht hat in der Krise. Sie hat es geschafft, in politisch schwierigem Fahrwasser zu intervenieren und Geldpolitik sinnvoll einzusetzen. Sie ist dabei innerhalb ihres Mandats geblieben. Als man den Euro und die EZB geschaffen hat, hat niemand daran gedacht, dass Zinsen auch einmal an der Nullgrenze sein können. Deswegen gab es auch keine ernsthafte Debatte über Quantitative Easing. Wir wissen aber, dass das ein normales Instrument ist, das alle modernen Zentralbanken verwenden. Sie hat es aber eher zu spät gemacht. Hätte sie es früher gemacht, wäre unser Aufschwung früher gekommen, und die Inflationsdynamik wäre näher am Ziel, und die Zinsen könnten vielleicht schon steigen.

Einerseits fordern viele eine stärkere demokratische, parlamentarische Kontrolle dessen, wie der Euro gemanagt wird. Andererseits ist eine politisch unabhängige Notenbank Gütesiegel jeder modernen Volkswirtschaft. Wie bringt man diese beiden Ziele miteinander in Einklang?

Die EZB muss unabhängig sein und bleiben. Man kann sich darüber unterhalten, ob es sinnvoll wäre, die Bankenaufsicht aus ihr herauszunehmen. Das wäre sicher besser für die Unabhängigkeit der Geldpolitik. Aber dafür gibt es derzeit keine Vertragsgrundlage. Die demokratische Legitimierung bezieht sich eher auf die Eurogruppe. Die braucht einen Kanal für mehr Transparenz.

Und wie?

Ich fände es gut, wenn der Präsident der Eurogruppe kein nationaler Finanzminister wäre, sondern auf Dauer bestellt. Dann gäbe es zwischen dem nationalen und dem europäischen Mandat keine Interessenkonflikte. Er sollte von der Eurogruppe ernannt werden, aber idealerweise vom Europäischen Parlament zumindest bestätigt werden. Und er sollte regelmäßig neben dem EZB-Präsidenten im Parlament auftreten und erklären, was entschieden wurde. Das sollte aber kein EU-Kommissar sein.

Mit dem Vorschlag von Kommissionschef Juncker, einen „Euro-Finanzminister“ zu schaffen, haben Sie also keine Freude?

Ich halte das für einen sehr schweren Fehler. Der Eurogruppenchef ist ja kein Finanzminister. Er ist der Präsident einer Gruppe nationaler Minister. Politik ist national, und wir brauchen einen Präsidenten, der die verschiedenen nationalen Politiken zusammenführt. Aufgabe der Kommission ist es, diesem Gremium Empfehlungen vorzugeben, und nicht, ihm vorzusitzen.

Was ist von der Meinung mancher Leute zu halten, wonach das Target-2-System, über das in der Eurozone von der EZB täglich Hunderttausende Zahlungen abgewickelt werden, eine versteckte Vermögensumverteilung von Nord nach Süd sei?

Das ist es natürlich nicht. Ich glaube, dass Professor Sinn sehr viel Schaden angerichtet hat, indem er das geradezu populistisch in die öffentliche Debatte gebracht hat. Natürlich ist diese Debatte wichtig, man muss sie akademisch führen. Ein Anstieg der Target-Salden ist, wenn er zu groß wird, ein Anzeichen dafür, dass Privatinvestoren nicht genug Vertrauen in ein bestimmtes Land haben. Das ist ein Problem. Andererseits ist das genau das, was die EZB im Rahmen der Geldpolitik machen muss, nämlich Liquidität bereitstellen für Banken, die gute Sicherheiten vorweisen können. Ich habe keinen Anlass zu glauben, dass die Sicherheiten nicht gut seien.

Sprich?

Die Behauptung, es gebe da versteckte riesige Risiken, ist falsch. Wenn man nur auf diesen Indikator starrt, glaubt man, dass der Euro jederzeit zerbrechen könnte – und verkennt, dass es große politische Einigkeit gibt, dass er unsere Währung ist und bleibt. Die Bürger sollten ihm vertrauen. Wir haben wesentlich bessere Inflationszahlen als in Bundesbankzeiten. Der Euro ist eine Hartwährung – und es gibt keinen Grund, den Institutionen zu misstrauen.

ZUR PERSON

Guntram Wolff leitet seit 2013 den wirtschaftspolitischen Thinktank Bruegel in Brüssel. Er hat eine große Bandbreite an theoretischen und praktischen Erfahrungen in diesem Feld gesammelt: von 2012 bis 2016 war er er Mitglied des Conseil d'Analyse Economique, dem Beraterstab des französischen Premierministers. Bevor er sich 2011 Bruegel anschloss, arbeitete der an der Universität Bonn Promovierte in der Europäischen Kommission, wo er sich mit den makroökonomischen Fragen der Eurozone und der Reform ihrer Funktionsweise befasste. Davor wiederum war er Teil des fiskalpolitischen Forschungsteams der Deutschen Bundesbank, und er hat auch den Internationalen Währungsfonds beraten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2017)

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