Zum ersten Mal eröffnet die EU ein Grundrechtsverfahren gegen einen Mitgliedstaat. Der nationalpopulistischen Regierung in Warschau wird die Aushebelung der demokratischen Gewaltenteilung vorgeworfen.
Brüssel/Warschau. Der nahezu zweijährige Stellungskrieg zwischen Warschau und Brüssel um die Unabhängigkeit der polnischen Justiz ist zu Ende, die EU-Kommission geht in die Offensive: Am Mittwoch eröffnete die Brüsseler Behörde ein Grundrechtsverfahren gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Polen – und zwar zum ersten Mal in der Geschichte der Union. Damit attestiert die Kommission offiziell, dass „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte (es geht um Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, Anm.) durch einen Mitgliedstaat besteht“.
Nun sind Europaparlament und Rat am Zug: Beide Institutionen müssen sich dem Urteil der Kommission anschließen – im Falle des Gremiums der Mitgliedstaaten ist dafür sogar eine Vierfünftelmehrheit (also 22 von 27 Stimmen) notwendig. Folgen Rat und Parlament der Empfehlung der Kommission, hat das (noch) keine Konsequenzen, denn etwaigen Sanktionen gegen Polen müssten alle EU-Mitglieder – also auch das mit Polen verbündete Ungarn – zustimmen.
Druck und Reputationsschaden
Aus der Perspektive der Kommission soll mit dem am Mittwoch gesetzten Schritt der Druck auf die nationalpopulistische Regierung in Warschau erhöht werden – denn eine Rüge im Rat können die Polen nicht mehr als Alleingang rachsüchtiger Brüsseler Eurokraten darstellen. Auch der Reputationsschaden wiegt schwer – zumal Polen von Direktinvestitionen aus dem EU-Ausland und von EU-Fördergeldern profitiert. Die Initiierung des Artikel-7-Verfahrens wurde folglich mit Aufforderungen zum Dialog verbunden: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach von einem „schweren Tag für Polen und für die EU“ und lud den neuen polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki am 9. Jänner nach Brüssel zu einem Arbeitsessen ein, um die Gefechtslage zu erörtern. Auch Junckers Stellvertreter Frans Timmermans, der in der Kommission für die Causa Polen zuständig ist, beteuerte gestern, dass er „rund um die Uhr“ gesprächsbereit sei.
Die Reaktionen aus Warschau waren frostig: „Das ist in unseren Augen eine rein politische Entscheidung“, sagte eine Regierungssprecherin, während Justizminister Zbigniew Ziobro die Kommissionsentscheidung „mit Gelassenheit zur Kenntnis“ nahm.
Hinweis an Türkis-Blau in Wien
Seit der Amtsübernahme im Herbst 2015 haben die Nationalpopulisten ein gutes Dutzend Gesetze erlassen, mit denen die Unabhängigkeit der Gerichte ausgehöhlt und die Richter des Landes der politischen Kontrolle der Regierung unterstellt wurden. Die Kommission argumentiert, dass die Justizreformen weder im Einklang mit der polnischen Verfassung noch mit EU-Recht stehen. Angesichts dieser Entwicklung könne die „Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung“ nicht mehr garantiert werden, sagte Timmermans gestern. Und die Rechtsstaatlichkeit sei Grundvoraussetzung für das Funktionieren des EU-Binnenmarkts. „Wir handeln schweren Herzens, aber die Faktenlage in Polen lässt uns keine andere Wahl.“ Bei der Gelegenheit gab der Kommissionsvizepräsident auch einen Hinweis auf die neue türkis-blaue Regierung in Österreich: Sollte Wien ähnliche Schritte wie Warschau setzen wollen, werde die Kommission ebenfalls handeln. Darauf gebe es momentan keinen Hinweis, das Koalitionsabkommen zwischen ÖVP und FPÖ sei in seinen Augen unproblematisch.
Die Brüsseler Behörde eröffnete am Mittwoch eine Nebenfront und reichte beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen eines der polnischen Justizgesetze ein – es geht um die Ungleichbehandlung männlicher und weiblicher Richter bei der Festsetzung des Pensionsantrittsalters und um die neue Befugnis des Justizministers, den Pensionsantritt genehmer Richter hinauszuzögern. Warschau weicht jedoch nicht von seinem Kurs ab: Präsident Andrzej Duda unterzeichnete gestern zwei Reformen, die das Oberste Gericht und den Nationalen Justizrat betreffen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2017)