Premierministerin May ist nicht mehr Herrin ihres eigenen Schicksals.
London. Nur mehr Tage bleiben der britischen Premierministerin, Theresa May, die Brexit-Vereinbarung ihrer Regierung mit der EU im Unterhaus durchzubringen. In zunehmend verzweifelten Versuchen bemühten sich zu Ende der Woche Emissäre der Regierungschefin, Gegner des Abkommens noch umzustimmen. Sie selbst bestätigte am Donnerstag Gespräche mit Abgeordneten, wonach das Parlament „eine Rolle“ in der umstrittenen Nordirland-Rückversicherung bekommen soll.
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Es war ein weiteres Zeichen dafür, wie sehr sich seit Beginn der Brexit-Debatte die Machtverhältnisse zwischen Regierung und Parlament verschoben haben. Zuerst fügten die Abgeordneten der Regierung eine historische Niederlage zu, indem sie die Veröffentlichung des Rechtsgutachtens über den Nordirland-Kompromiss erzwangen. Ausgerechnet Mays bisheriger Mehrheitsbeschaffer, die nordirische DUP, warf der Premierministerin vor, „das Parlament in die Irre geführt“ zu haben. Noch schwerwiegender für May aber war die Annahme einer Entschließung, wonach das Parlament bei einem Scheitern des vorliegenden Abkommens mit der EU eine Mitsprache über eine neue Vereinbarung verlangt. Politikprofessor Anand Menon sagt zur „Presse“: „Ob die Entschließung rechtlich bindend oder nicht ist, politisch wird man an ihr nicht vorbeikommen.“
Dem Antrag hatten sich auch 25 Vertreter von Mays konservativer Partei angeschlossen. Wenn die Premierministerin eine Warnung brauchte, wie prekär ihre Situation ist, wurde sie ihr damit auf dem Tablett serviert. Nach der Eskalation des Streits über die Nordirland-Frage ist die Zustimmung zu dem vorliegenden EU-Abkommen weiter gefallen. Mittlerweile gehen Beobachter von einer Niederlage mit 100 und mehr Stimmen aus.
Mindestens 60 Stimmen fehlen
Das Unterhaus hat 650 Sitze, davon nehmen nur 639 Abgeordnete an Abstimmungen teil. Die Mehrheit für May liegt also bei 320. Die Konservativen sind die stärkste Fraktion mit 315 Sitzen und regieren dank der zehn DUP-Vertreter. Die nordirische Partei hat bereits angekündigt, gegen den Brexit-Deal zu stimmen. Unter den Konservativen sind mindestens 40 Brexit-Hardliner gegen jede Vereinbarung mit Brüssel, während die Zahl der Proeuropäer, die den Deal ebenfalls ablehnen, rund 15 beträgt.
Selbst wenn es May gelingt, die überwiegende Mehrheit ihrer Fraktion auf ihren Kurs einzuschwören, fehlen ihr also mindestens 60 Stimmen auf einen Sieg. Die kann sie wohl kaum in der Opposition mobilisieren: Die 257 Labour-Abgeordneten halten geschlossen die Parteilinie, mit einer Ablehnung von Mays Deal Neuwahlen erzwingen zu wollen. In der Labour-Fraktion gibt es rund zehn Brexit-Hardliner, und ungefähr ebenso viele proeuropäische Abweichler. Je schwächer die Premierministerin aber wird, umso weniger Grund haben sie, für Mays Deal zu stimmen. Von den übrigen 57 Abgeordneten werden bis auf vier Wackelkandidaten alle gegen das Abkommen stimmen.
Angesichts dieser Lage versuchten zahlreiche Kabinettsmitglieder, May zu einer Verschiebung der für Dienstagabend geplante Abstimmung zu überreden. Die Premierministerin lehnte dies aber kategorisch ab. Unklar blieb auch, was damit zu gewinnen wäre. May hat es in 30 Monaten nicht geschafft, im Parlament eine Mehrheit für „ihren“ Brexit zu schmieden. Nach einem Scheitern hat sie 21 Tage zur Vorlage eines neuen Entwurfs – und hier wollen die Abgeordneten jetzt mitreden. „Damit sind wir im Fall einer Niederlage eindeutig bei einer Fristverlängerung für den Brexit“, sagt Politikprofessor Menon.
In dem die Regierung die Kontrolle über den Brexit-Prozess verloren hat, ist aber auch das am meisten beschworene Schreckgespenst zu einer unwahrscheinlichen Variante geworden. Bis auf eine kleine Gruppe von Brexit-Exremisten will nämlich im Unterhaus niemand den Crash. Menon warnt zwar: „Die Tatsache, dass das Parlament keinen No-Deal-Brexit will, heißt noch nicht, dass er nicht passieren kann.“ Aber kein britischer Premier wird die nächsten vier Monate verstreichen lassen können, bis das Land in den programmierten wirtschaftlichen Abgrund stürzt: Von der Lebensmittelversorgung bis zum Flugverkehr stünde dann alles infrage.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2018)